EGMR, 7.11.2017, 24703/15 (Egill Einarsson gegen Island)

Der Begriff "Vergewaltiger" als Tatsachenbehauptung

Der EGMR bewertete den Ausdruck "Vergewaltiger" als Tatsachenbehauptung, da er  objektiv und seiner Natur nach faktisch sei. Als zulässige Meinungsäußerung könne er dem konkreten Gesamtzusammenhang nach nur dann eingeordnet werden, wenn dafür eine ausreichende tatsächliche Grundlage bestehe.

Nachdem zwei Ermittlungsverfahren wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung und einer anderen Sexualstraftat gegen den Beschwerdeführer ˗ einem in Island bekannten Schauspieler und Autor ˗ eingestellt worden waren, wurde wenige Tage später ein provokantes Interview mit ihm zu den Tatvorwürfen veröffentlicht, woraufhin er im Internetportal Instagram als „Vergewaltiger-Arsch“ bezeichnet wurde. Die isländischen Gerichte wiesen seine Unterlassungsklage sodann mit der Begründung ab, dass es sich angesichts dieses Interviews um eine zulässige Meinungsäußerung handele.

Der EGMR erkannte in der Klageabweisung durch die isländischen Gerichte nun eine Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 8 der Konvention (Recht auf Schutz des guten Rufes als Bestandteil des Rechtes auf Achtung des Privatlebens):

Es müsse zwischen Tatsachenbehauptungen und Meinungsäußerungen unterschieden werden: Während das Bestehen von Tatsachen bewiesen werde könne, sei die Wahrheit von Werturteilen dem Beweis nicht zugänglich. Aber auch wenn eine Äußerung einem Werturteil gleichkomme, bedürfe es einer ausreichenden tatsächlichen Basis, um diese zu stützen, da sie sonst übermäßig sei. Der Ausdruck „Vergewaltiger“ sei objektiv und seiner Natur nach faktisch. Er beziehe sich unmittelbar auf eine Person, die den Tatbestand der Vergewaltigung verwirklicht habe, der in Island auch unter Strafe stehe. Die Wahrheit der Behauptung einer Vergewaltigung sei deshalb dem Beweis zugänglich.

Zwar sei die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass eine solche objektive Tatsachenbehauptung ihrem Kontext nach auch als Werturteil eingeordnet werden könnte, doch müssten die kontextbezogenen Elemente, die eine solche Schlussfolgerung rechtfertigen könnten, angesichts des objektiven und tatsächlichen Charakters, die dem Begriff „Vergewaltiger“ eigen sei, überzeugend sein. Die Begründung der isländischen Gerichte genüge diesen Anforderungen nicht: Denn nach dem zeitlichen Zusammenhang der Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft am 15. November 2012, dem Erscheinen des Interviews am 22. November 2012 sowie der in Rede stehenden Veröffentlichung auf Instagram vom selben Tag habe ein faktischer Kontext zwischen der Äußerung „Vergewaltiger“ und den Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer bestanden.

Selbst wenn man diesen Kontext anders bewerten wollte, wäre das oberste isländische Gericht die Begründung schuldig geblieben, mittels welcher tatsächlichen Grundlage der Begriff „Vergewaltiger“ als Werturteil hätte gerechtfertigt werden können. Der bloße Hinweis darauf, dass der Beschwerdeführer durch das Interview eine schonungslose öffentliche Debatte losgetreten und daran teilgenommen habe, genüge dafür nicht.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 16.10.2018 11:43
Quelle: Dr. Thomas Haug, LL.M. (Exeter)

zurück zur vorherigen Seite