EGMR, Urt. v. 9.4.2019 - 43734/14 (Navalnyy gegen Russland II)

Keine Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit von Inhaftierten ohne nachvollziehbaren Bezug zu den Erforderlichkeiten strafrechtlicher Ermittlungen

Der Beschwerdeführer Aleksey Anatolyevich Navalnyy ist Teil der politischen Opposition in Russland. Er wandte sich vor dem EGMR gegen die Entscheidung, ihn mehr als zehn Monate lang unter Hausarrest gestellt zu haben, sowie gegen die ihm zu dieser Zeit auferlegten Auflagen: Diese seien willkürlich erfolgt und hätten ihn daran gehindert, seinen öffentlichen und politischen Aktivitäten nachzugehen.

Das Bezirksgericht hatte als Auflagen des Hausarrestes bestimmt, dass ihm jegliche Kommunikation außerhalb seiner engsten Familie sowie mit seinem Rechtsanwalt untersagt war. Auch waren ihm der Empfang und die Versendung jeglicher Korrespondenz untersagt, ebenso wie die Nutzung des Internet. Ebenso waren ihm Äußerungen, Erklärungen oder Mitteilungen an die Öffentlichkeit sowie Kommentare über sein Strafverfahren gegenüber den Medien untersagt. Später erkannte das Bezirksgericht die letzten beiden Auflagen als rechtswidrig und ersetzte diese durch das Verbot der Nutzung von Radio und Fernsehen als Mittel der Kommunikation. Dem Beschwerdeführer blieb unklar, ob die neu formulierte Auflage ihm untersagte, Fernsehen zu schauen und Radio zu hören, oder ob es ihm lediglich untersagt war, sich dort zu äußern.

Der EGMR stellte nun einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest:

Der Umfang der neuen Auflage sei im Ergebnis sogar umfassender gewesen als das vormalige Verbot der öffentlichen Kommentierung des Strafverfahrens, weil es den Beschwerdeführer daran gehindert habe, sich über Medien zu allgemeinen Themen zu äußern. Es habe kein Zusammenhang zwischen der Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit des Beschwerdeführers und den von der Regierung genannten Risiken bestanden: Im Hinblick auf eine Fluchtgefahr, die angeblich durch die Reisen des Beschwerdeführers in die Region Moskau belegt worden wären, sei es selbst im Falle der Annahme einer tatsächlich bestehenden Fluchtgefahr nur schwer nachvollziehbar, wie diese durch ein Verbot der Nutzung von Radio und Fernsehen als Kommunikationsmittel hätte ausgeräumt werden können. Der Beschwerdeführer sei in seiner Wohnung eingesperrt gewesen; er sei streng überwacht worden und habe ein elektronisches Ortungsgerät getragen; auch sei es ihm noch nicht einmal erlaubt gewesen, seine Wohnung für Spaziergänge zu verlassen. Unter diesen Umständen sei es unwahrscheinlich gewesen, dass eine Möglichkeit zur öffentlichen Äußerung über Radio oder Fernsehen eine Flucht erleichtert hätte. Auf die Möglichkeit, dass der Beschwerdeführer eine öffentliche Äußerung dazu hätte nutzen können, Zeugen zu beeinflussen oder auf andere Weise die Ermittlungen zu behindern, habe die Regierung nur abstrakt hingewiesen.

Die Auflagen zum verhängten Hausarrest seien ohne erkennbaren Bezug zu den Erforderlichkeiten strafrechtlicher Ermittlungen erfolgt. Das Verbot des Zugangs des Beschwerdeführers zu Kommunikationsmitteln habe nicht dem Zweck gedient, sein Erscheinen vor den Ermittlungsbehörden oder vor Gericht sicherzustellen, und – ebenso wie der Hausarrest als solcher – auch keinen Bezug zu den Zielen der Strafverfolgung gehabt.

Anm. d. Red.: Siehe zur allgemeinen Bedeutung der EMKR in Deutschland und ihrer Auslegung durch den EGMR: Haug, AfP 2016, 223 sowie NJW 2018, 2674.

 

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 17.06.2019 17:47
Quelle: Dr. Thomas Haug, LL.M. (Exeter)

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