EGMR, Urt. v. 11.5.2021 - 44561/11 u.a.

Russland: EGMR mit zwei Urteilen zur Verbreitung extremistischer Informationen

Der EGMR hat im Mai mit zwei Urteilen zur Reichweite der Meinungsfreiheit im Hinblick auf die behauptete Verbreitung extremistischer Informationen in Russland Stellung genommen. Während im Urteil Novaya Gazeta eine Verletzung des Art. 10 EMRK bejaht wurde, hat der Gerichtshof einen solchen Verstoß im Urteil Kilin verneint. (EGMR, Urt. v. 11.5.2021 - 44561/11 (RID Novaya Gazeta und ZAO Novaya Gazeta gegen Russland), Urt. v. 11.5.2021 - 10271/12 (Kilin gegen Russland))

Der Sachverhalt (44561/11):
Bei den Beschwerdeführern handelt es sich um einen Verlag, der seit 2007 als Redaktion und Herausgeber der Zeitung Novaya Gazeta fungiert, sowie um eine Aktiengesellschaft, welche die Zeitung gegründet hatte. Der Beschwerde liegt ein Artikel zugrunde, der 2010 zum Jahrestag der mutmaßlich rechtsextrem motivierten Ermordung der antifaschistisch eingestellten Stanislaw Markelow und Anastasia Baburowa in der Novaya Gazeta veröffentlicht worden war. In Folge erteilte der Roskomnadzor, die föderale Regulierungsbehörde für Massenmedien, in Bezug auf den Artikel eine Verwarnung wegen angeblicher Verbreitung extremistischer Informationen. Er habe Aussagen – in Form von Zitaten aus dem politischen Manifest einer umstrittenen Organisation – enthalten, die zu sozialem, rassischem und ethnischem Unfrieden im Sinne des russischen Rechts aufstachelten oder aufstacheln konnten. Die Verwarnung wurde vor Gericht aufrechterhalten. Die Beschwerdeführer beriefen sich insbesondere auf Art. 10 EMRK und rügten, dass die gegen sie ausgesprochene Verwarnung v.a. in ihre Freiheit eingreife, die Ergebnisse ihrer investigativen journalistischen Arbeit zu verbreiten.

Die Gründe (44561/11):
Der EGMR betonte unter Rückgriff auf seine ständige Rechtsprechung, dass zur Beurteilung der Rechtfertigung eines Eingriffes in die Meinungsfreiheit in Fällen wie dem vorliegenden das Zusammenspiel verschiedener Faktoren berücksichtigt werden müsse, insbesondere der soziale und politische Kontext, in dem der Artikel veröffentlicht wurde, die Frage, ob in dem Artikel Gewalt, Hass oder Intoleranz gerechtfertigt werden, Form und Wortlaut des Artikels, sein Potenzial, zu schädlichen Folgen zu führen und die vorliegend von den russischen Behörden angeführten Rechtfertigungsgründe, namentlich Aufstachelung zu sozialem, rassischem und ethnischem Unfrieden abzuwehren.

Der beanstandete Artikel, geschrieben im Stil einer journalistischen Recherche, war im Zuge des laufenden Strafverfahrens gegen die des Mordes Verdächtigen am ersten Jahrestag der Tat erschienen. Sein Ziel sei gewesen, so der EGMR, über die Existenz, das Funktionieren und die Tätigkeiten von extremistischen Organisationen, aus deren Umfeld die Verdächtigen stammten, zu informieren und sie somit zu entlarven. Es sei darum gegangen, die wahre Natur solcher Organisationen aufzuzeigen und somit die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Behörden auf Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu lenken. Nur in diesem Zusammenhang und um Aussagen des Artikels zu belegen, die Rechtswidrigkeit der fraglichen Organisationen zu untermalen und ein Verständnis beim Leser herzustellen, sei aus dem Manifest einer der Organisationen zitiert worden. Zugleich habe sich die Zeitung im Rahmen des Beitrags deutlich von den zitierten Aussagen distanziert. Dasselbe ergebe sich aus dem Gesamtkontext des Artikels.

Eine solche dokumentarische Illustration sei von Art. 10 EMRK geschützt. Sie trage zur Glaubwürdigkeit des Artikels bei. Somit schienen die Zitate bei objektiver Betrachtung weder den Zweck zu haben noch geeignet zu sein, extremistisches Gedankengut zu fördern. Diese Argumentation gelte auch für die zur Illustration des Artikels verwendeten Fotos mit Symbolen, die Nazi-Symbolen nicht unähnlich waren.
Der EGMR stellte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest.

Die Beschwerde (10271/12):
Die Beschwerde betraf ein strafrechtliches Verfahren gegen und die Verurteilung eines russischen Bürgers wegen der Verbreitung extremistischen Materials. Ihm war vorgeworfen worden, angeblich rassistische Video- und Audiodateien, die Neonazis, xenophobe und rassistische Ansichten und Aufrufe zum Extremismus zum Gegenstand hatten, im beliebtesten sozialen Online-Netzwerk Russlands veröffentlicht zu haben. Der EGMR verneinte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK. Die Handlungen des Beschwerdeführers stellten eine Anstachelung zum Hass mit dem Ziel ethnisch motivierter Gewaltausübung dar, die nach der Rechtsprechung des EGMR, auch zu Gefahren von Hassrede, nicht schutzwürdig sei. Vor diesen Hintergrund sei die verhängte Gefängnisstrafe von 18 Monaten auf Bewährung nicht unverhältnismäßig gewesen.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 16.06.2021 16:43
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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