EGMR, Urt. v. 1.7.2021 - 56176/18 u.a.

Frankreich: Zugang zu Informationen in staatlichem Besitz

Eine Unredlichkeit, Ungenauigkeit oder Unzulänglichkeit von Informationen, die von einer Behörde im Rahmen einer nach innerstaatlichem Recht vorgeschriebenen Auskunftspflicht erteilt wurden, kommt einer Verweigerung der Auskunft gleich und kann somit die Zulässigkeit einer auf Art. 10 EMRK gestützten Beschwerde auslösen. (Association BURESTOP 55 u.a. gegen Frankreich)

Der Sachverhalt:
Bei den Beschwerdeführern handelt es sich um Umweltschutzverbände, die sich gegen ein geplantes industrielles Lager wandten, in dem hochradioaktive und langlebige Kernkraft-Abfälle in geologischen Tiefenlagern an einem bestimmten Standort aufbewahrt werden sollen. In einem Bericht wies ANDRA (Agence Nationale pour la Gestion des Déchets Radioactifs), die in Frankreich für den Umgang mit radioaktiven Abfällen zuständige Behörde, darauf hin, dass im geplanten Lagergebiet zukünftig kein Risiko gefährlicher geothermischer Bohrungen bestehe, so dass es auch unproblematisch sei, wenn die Vergrabung der radioaktiven Abfälle dort in Vergessenheit geraten würde. Die beschwerdeführenden Verbände forderten ANDRA vergeblich auf anzuerkennen, dass diese mit ihrem Bericht unrichtige und unehrliche wissenschaftlich-technische Informationen verbreitet und damit unter Verletzung ihrer gesetzlichen Pflichten eine Straftat begangen habe. Die Beschwerdeführer erhoben schließlich Klage gegen ANDRA auf Ersatz des Schadens, der durch die Verletzung ihrer Informationspflicht entstanden sei. Nach erstinstanzlich festgestellter Unzulässigkeit aller Klagen erklärte das Berufungsgericht nur die Klage eines der beschwerdeführenden Verbände mangels Klagebefugnis für unzulässig; fünf weitere Klagen wurden als unbegründet abgewiesen.

Die Gründe:
Der Gerichtshof prüfte zunächst die Zulässigkeit einer auf Art. 10 EMRK gestützten Beschwerde. Er verwies dabei auf seine Rechtsprechung Magyar Helsinki Bizottság gegen Ungarn (EGMR v. 8.11.2016, 18030/11 [GK], dort Ziff. 149 ff.), wonach die EMRK kein allgemeines Recht auf Zugang zu den im Besitz des Staates befindlichen Informationen vorsähe, sondern nur in gewissem Umfang und unter bestimmten Bedingungen ein solches Recht und eine Verpflichtung der Behörden, diese zu übermitteln, garantiere. Eine positive Verpflichtung der Staaten zur Sammlung und Verbreitung von Informationen bestehe aus Art. 10 EMRK nicht. Ein Zugangsrecht zu und eine Informationspflicht in Bezug auf Informationen in staatlichem Besitz könnten aber dann entstehen, wenn der Zugang zu den betreffenden Informationen für die Ausübung des Rechts des Einzelnen auf freie Meinungsäußerung, insbesondere die Freiheit, Informationen weiterzugeben, entscheidend ist und die Verweigerung dieses Zugangs einen Eingriff in die Ausübung des genannten Rechts darstellt. Vorliegend habe das innerstaatliche Recht die ANDRA verpflichtet, die Öffentlichkeit über die Entsorgung radioaktiver Abfälle zu informieren, worunter auch der fragliche Sachverhalt falle. Auch eine Unredlichkeit, Ungenauigkeit oder Unzulänglichkeit von Informationen, die von einer Behörde im Rahmen einer nach innerstaatlichem Recht vorgeschriebenen Auskunftspflicht erteilt wurden, käme einer Verweigerung der Auskunft gleich, womit eine solche Behauptung für die Zulässigkeit ausreichend sein kann. Aufgrund der Rolle der Beschwerdeführerverbände eines nach französischem Recht offiziell zugelassenen „öffentlichen Wachhundes“, ihrer sozialen Zielsetzung, die Öffentlichkeit über Umwelt- und Gesundheitsgefahren zu informieren und der Relevanz der Informationen für das öffentliche Interesse sei Art. 10 EMRK hier einschlägig und die darauf begründete Beschwerde zulässig.

Die Begründetheit wurde vom EGMR hingegen verneint. Der Zugang zur Überprüfung der betreffenden Informationen sei vorliegend wegen der generationenübergreifenden nuklearen Risiken besonders wichtig gewesen. Die innerstaatlichen Gerichte hätten fünf der sechs Beschwerdeführerverbände in die Lage versetzt, im Rahmen eines voll kontradiktorischen Verfahrens eine wirksame Überprüfung der Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtung der ANDRA zur Information der Öffentlichkeit über die Entsorgung radioaktiver Abfälle sowie des Inhalts und der Qualität der von der ANDRA mitgeteilten Informationen vorzunehmen. Die Begründung des Urteils des Berufungsgerichts sei wegen ihrer Kürze zwar in der Tat nicht über jede Kritik erhaben gewesen. Dies reiche jedoch nicht aus, um die Feststellung in Frage zu stellen, dass die genannten Verbände Zugang zu einem Rechtsbehelf gehabt hätten, der den Anforderungen des Art. 10 EMRK entspreche.

Demnach hielt der EGMR einstimmig fest, dass keine Verletzung von Art. 10 EMRK vorliege.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.07.2021 11:15
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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