EGMR, Urt. v. 2.9.2021 - 45581/15 (Sanchez gegen Frankreich)

Frankreich: Unterlassene Löschung von Hassrede Dritter auf öffentlichem Facebook-Profil eines Politikers

Die Verhängung einer Geldstrafe wegen unterlassener Löschung von Kommentaren Dritter auf der Pinnwand eines öffentlichen Facebook-Profils eines Politikers, die als Hassrede einzustufen sind, stellt keinen Verstoß gegen Art. 10 EMRK dar.

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer ist französischer Regionalpolitiker der Partei Rassemblement National. Zum streitgegenständlichen Zeitpunkt war er Kandidat für die Wahlen zur französischen Nationalversammlung. Auf der Pinnwand seines bewusst öffentlichen, für den Wahlkampf verwendeten und von ihm selbst betreuten Facebook-Profils waren Kommentare Dritter beleidigenden Charakters gepostet worden, die Hassrede gleichkamen. Der Beschwerdeführer unterließ es, unverzügliche Maßnahmen zu ihrer Löschung zu ergreifen und wurde – wie auch die Autoren der Kommentare – wegen Aufstachelung zum Hass oder zur Gewalt gegen eine Gruppe von Menschen und eine Einzelperson aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, hier Muslime, strafrechtlich zu einer Geldstrafe von 3.000 € verurteilt.

Die Gründe:
Der EGMR bekräftigte, dass Toleranz und Achtung der gleichen Würde aller Menschen die Grundlagen einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft darstellten. Daher – und obwohl der Gerichtshof dem Recht auf freie Meinungsäußerung im Rahmen politischer Debatten höchste Bedeutung beimesse – könne es grundsätzlich als notwendig erachtet werden, alle Formen der Meinungsäußerung zu bestrafen oder sogar zu unterbinden, die auf Intoleranz beruhenden Hass verbreiten, fördern, rechtfertigen oder dazu aufstacheln. Allerdings bedürfe es besonders stichhaltiger Gründe, um Beschränkungen der politischen Meinungsäußerung zu rechtfertigen. Insbesondere im Vorfeld einer Wahl genössen die politischen Parteien eine weit reichende Meinungsfreiheit, und die freie Verbreitung von Meinungen und Informationen jeglicher Art solle erlaubt sein.

Vorliegend seien die geposteten Kommentare aber eindeutig rechtswidrig gewesen, die verwendete Sprache habe klar zu Hass und Gewalt angestiftet, und sie hätten ein starkes Gefühl der Ablehnung oder Feindseligkeit gegenüber Menschen muslimischen Glaubens oder denjenigen, die als solche wahrgenommen werden, hervorrufen können. Rassistische oder fremdenfeindliche Äußerungen trügen insbesondere in einem Wahlkampfkontext dazu bei, Hass und Intoleranz zu schüren. Die Verantwortung für den Inhalt der veröffentlichten Äußerungen habe bei dem Beschwerdeführer gelegen, der in seiner Eigenschaft als gewählter Abgeordneter und Person des öffentlichen Lebens die Pinnwand seines Facebook-Kontos wissentlich öffentlich gemacht und damit den als Freunde gelisteten Nutzern die Möglichkeit gegeben hatte, dort ihre Kommentare zu veröffentlichen. Er hätte wissen müssen, dass sein Konto wahrscheinlich Kommentare politischer Natur anziehen würde, die polemisch sein würden und daher von ihm noch sorgfältiger hätten überwacht werden müssen. Auch habe sein Status als politische Persönlichkeit eine noch größere Wachsamkeit erfordert.
Der Beschwerdeführer habe seine Haltung, die Kommentare nicht näher zu überwachen oder zu löschen, auch damit begründet, dass sie seiner Ansicht nach mit der Meinungsfreiheit vereinbar seien, und sie daher bewusst auf seiner Facebook-Pinnwand belassen. Aus Sicht des EGMR würden personenbezogene Angriffe in Form von Beleidigungen, Spott oder Verleumdungen, die sich gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen richten, oder die Aufstachelung zu Hass und Gewalt gegen eine Person aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, jedoch ausreichen, damit die Behörden derartige Verhaltensweisen vorrangig bekämpfen, wenn sie mit einem unverantwortlichen Gebrauch der Meinungsfreiheit konfrontiert sind, der die Würde oder sogar die Sicherheit bestimmter Bevölkerungsgruppen beeinträchtigt. Die innerstaatlichen Gerichte hätten ihre Verurteilung auf sachliche und ausreichende Gründe gestützt, die mit der mangelnden Wachsamkeit und Reaktionsfähigkeit des Beschwerdeführers hinsichtlich der unterlassenen Löschung zusammenhingen.

Der EGMR hielt mit sechs Stimmen zu einer fest, dass keine Verletzung von Art. 10 EMRK vorgelegen habe. Dem Urteil ist die abweichende Meinung einer Richterin beigefügt.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 20.09.2021 11:35
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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