EGMR, Urt. v. 16.11.2021 - 47695/14

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens: Darstellung in den Medien als Dieb ohne jede sachliche Grundlage (Rumänien)

Staatliche Gerichte müssen das Recht von Journalisten auf freie Meinungsäußerung mit dem Recht dargestellter Personen auf Achtung ihres guten Rufs nach in der Rechtsprechung des EGMR festgelegten Kriterien abwägen. (Văcean gegen Rumänien)

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer ist Musikprofessor. Im Jahr 2011 wurde auf den Websites von vier Zeitungen ein Interview mit Video mit M.D., dem Vorsitzenden der Gewerkschaft der Mitglieder des Philharmonischen Orchesters der Stadt Arad (Rumänien), und mehrere Presseartikel veröffentlicht. Dort wurde behauptet, dass der Beschwerdeführer drei Jahre zuvor einen Diebstahl begangen habe. Zu dem Zeitpunkt sollte der Beschwerdeführer nach einem ersten Platz in der Auswahlprüfung zum Direktor des genannten Orchesters ernannt werden. Vorbestrafte Personen hatten sich nicht um diese Stelle bewerben können. Nach einer entsprechenden Anfrage bestätigte die Polizei den städtischen Behörden, dass gegen den Beschwerdeführer nicht wegen Diebstahls ermittelt worden war und keine Strafakte vorliege. Er wurde daraufhin zum Direktor des Orchesters ernannt.

Im Jahr 2012 erhob der Beschwerdeführer beim Gericht erster Instanz von Arad eine Schadensersatzklage gegen M.D. und die betreffenden Medien u.a. wegen Verletzung seines guten Rufs. Das Gericht urteilte, dass sich M.D. nicht auf den Schutz von Art. 10 EMRK (Meinungsfreiheit) berufen könne und der Beschwerdeführer einen immateriellen Schaden erlitten habe, weil er öffentlich als Dieb dargestellt worden sei. M.D. wurde zu Schadensersatz verurteilt. Das Gericht hielt daneben fest, dass die betreffenden Medien den guten Ruf des Beschwerdeführers verletzt hätten, und ordnete die Entfernung der fraglichen Artikel von ihren Websites und die Veröffentlichung des gegen sie ergangenen Urteils an.

Der Berufung des M.D. wurde stattgegeben; das Berufungsgericht hob das erstinstanzliche Urteil unter vollumfänglicher Abweisung der Klage des Beschwerdeführers auf. Das Interview sei im Rahmen einer journalistischen Untersuchung von öffentlichem Interesse im Sinne von Art. 10 EMRK veröffentlicht worden.

Die Gründe:
Der Gerichtshof rügte, dass das klageabweisende Berufungsgericht weder die Frage, ob das Interview und die beanstandeten Artikel einen echten Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse darstellten, noch die Frage der Art der während des Interviews gemachten Äußerungen angemessen geprüft habe. Er war der Ansicht, dass das Berufungsgericht das Recht der Journalisten auf freie Meinungsäußerung und das Recht des Beschwerdeführers auf Schutz seines guten Rufs nicht nach den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten Kriterien abgewogen habe.

Der EGMR war vor dem Hintergrund, dass die in dem Video dargestellten Ereignisse mehrere Jahre vor der Ausstrahlung des Berichts stattgefunden hatten, und des Inhalts des Videos und der Artikel der Ansicht, dass das Berufungsgericht hätte darlegen sollen, warum das fragliche Material Teil einer Debatte von öffentlichem Interesse gewesen sei. Er stellte weiterhin fest, dass der Beschwerdeführer vor seiner Bewerbung um die fragliche Stelle nicht in der Öffentlichkeit gestanden habe und unbekannt gewesen sei. Allerdings sei er in Anbetracht des Status und der Aufgaben des Direktors einer lokalen öffentlichen Einrichtung durch die Teilnahme an der Auswahlprüfung für die Stelle unweigerlich und wissentlich in die Öffentlichkeit getreten und habe sich damit einer genauen Prüfung seiner Handlungen ausgesetzt. Daher seien die Grenzen der zulässigen Kritik in seinem Fall weiter gesteckt als bei einer Person, die der Öffentlichkeit völlig unbekannt sei, wenn auch nicht so weit wie bei einem Politiker, insbesondere angesichts der potenziell karriereschädlichen Auswirkungen der Vorwürfe.

Die auf den Beschwerdeführer hindeutenden Aussagen des M.D. bewertete der EGMR als eine objektive Tatsachenbehauptung. Dies habe das Berufungsgericht verkannt, da es die Äußerungen nicht hinreichend differenziert geprüft und nicht versucht habe festzustellen, ob die Behauptungen in ihrer Gesamtheit und im Zusammenhang mit den gestellten Fragen zumindest einen gewissen sachlichen Bezug haben könnten.

Mit Blick auf die fraglichen Artikel stellte der EGMR fest, dass das Berufungsgericht auf die Frage hätte eingehen müssen, ob vorliegend die Pressefreiheit dazu dienen kann, die wiederholte Veröffentlichung der Artikel und die Beeinträchtigung des Rechts des Beschwerdeführers auf Schutz seines guten Rufs durch die Form und den Inhalt der Artikel zu rechtfertigen. Diese seien dazu bestimmt gewesen, der Öffentlichkeit eine unmissverständliche Botschaft zu vermitteln, nämlich dass gegen den Beschwerdeführer, den künftigen Direktor einer öffentlichen Einrichtung, ein Ermittlungsverfahren wegen Diebstahls eingeleitet worden war oder hätte eingeleitet werden müssen. Unter diesen Umständen hätte das Berufungsgericht prüfen müssen, ob die Artikel eine objektive und ausreichende Tatsachengrundlage hatten und ob die Journalisten in gutem Glauben gehandelt hatten, um korrekte und zuverlässige Informationen im Einklang mit der journalistischen Ethik zu liefern.

Schließlich habe das Berufungsgericht zu keinem Zeitpunkt geprüft, inwieweit die Artikel im Internet verbreitet worden und wie sie zugänglich waren und welche Auswirkungen sie auf die Situation des Beschwerdeführers hatten. Der EGMR wies in diesem Zusammenhang erneut darauf hin, dass die Gefahr einer Beeinträchtigung insbesondere des Rechts auf Achtung des Privatlebens durch Inhalte und Mitteilungen im Internet mit Sicherheit größer ist als bei deren Verbreitung durch die Presse.

Der EGMR hielt einstimmig eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 23.11.2021 10:49
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

zurück zur vorherigen Seite