EGMR, Urt. v. 16.11.2021 - 41055/12

Meinungsfreiheit: Ungerechtfertigte Sanktionierung einer Nichtregierungsorganisation für die Verbreitung von Wahlbeobachtungsmaterial (Russland)

Wenn eine Nichtregierungsorganisation die Aufmerksamkeit auf Angelegenheiten von öffentlichem Interesse lenkt, übt sie eine öffentliche Überwachungsfunktion von ähnlicher Bedeutung wie die Presse aus und kann als sozialer Wächter einen ähnlichen Schutz durch die EMRK verdienen wie diese. (Assotsiatsiya NGO Golos u.a. gegen Russland)

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin ist die frühere gemeinnützige Nichtregierungsorganisation Golos, deren Tätigkeit die Überwachung von Wahlkampagnen umfasste. Während des Wahlkampfs zur Staatsduma, dem russischen Parlament, im Jahr 2011 richtete Golos eine Projekt-Website mit einer interaktiven und ständig aktualisierten Karte Russlands ein, auf der Berichte über angebliche Verstöße gegen die Wahlgesetzgebung zu finden waren. Die eigentliche Website von Golos enthielt textliche oder visuelle Links zu dieser Projekt-Website und weitere wahlbezogene Informationen. Gegen die Organisation wurde wegen Verstoßes gegen das in Russland geltende Verbot, wahlbezogene Materialien, in diesem Fall Texte, Bildmaterial, eine interaktive Karte und eine Ergebnisliste nach einer Stichwortsuche, in einer „Ruheperiode“ vor einer Wahl zu veröffentlichen, eine Geldbuße verhängt. Die „Ruheperiode“ umfasst gemäß dem Wahlrechtsgesetz von 2002 das Verbot der Verbreitung bestimmter Informationen und Daten in den fünf Tagen vor einem Wahltag. Die Berufung von Golos und ihr anschließender Antrag auf Überprüfung wurden ebenso zurückgewiesen wie die Überprüfungsanträge des Menschenrechtsbeauftragten der Russischen Föderation.

Die Gründe:
Der Gerichtshof stellte fest, dass die Verbreitung der angefochtenen Materialien auf den beiden Webseiten und die Bereitstellung der Internetplattform für nutzergenerierte Inhalte in Ausübung des durch Art. 10 Abs. 1 EMRK geschützten Rechts auf freie Meinungsäußerung erfolgten. Mit der Verurteilung Golos‘ habe ein Eingriff in das Recht vorgelegen, der dem Schutz der Rechte anderer gemäß Art. 10 Abs. 2 EMRK gedient habe. Er sei jedoch nicht „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ gewesen.
Die innerstaatlichen Gerichte hätten nicht im Einklang mit den in Art. 10 EMRK verankerten Grundsätzen agiert und keine vertretbare Würdigung der relevanten Tatsachen vorgenommen. So seien einzelne vorgelegte Beweisstücke im Rahmen der Bewertung des Sachverhalts ignoriert worden, der Zeitraum des Hochladens oder anderweitigen Veröffentlichens der angefochtenen Materialien unbeachtet geblieben und nicht angegeben worden, was zu dem Schluss geführt hatte, dass die angefochtenen Materialien unter den Begriff „Forschungsbericht“ – einen der materiellen Begriffe des Wahlrechtsgesetzes – fielen. Der EGMR konnte in der Argumentation der innerstaatlichen Gerichte keinen Anhaltspunkt dafür erkennen, dass es sich bei den fraglichen Materialien tatsächlich um „Forschungsberichte“ handeln könnte, die sich „auf“ die damalige Wahlperiode „bezogen“. Schließlich sei auch der Inhalt verschiedener Veröffentlichungen auf den beiden Websites nicht im Einzelnen bewertet worden. Insbesondere im Zusammenhang mit der interaktiven Karte auf der Projekt-Website hätten die innerstaatlichen Gerichte in ihrer Begründung nicht dargelegt, dass der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ gewesen war. Die Unbestimmtheit des Vorwurfs gegenüber Golos und die eher oberflächliche Herangehensweise der Gerichte bei der Beurteilung dieses Vorwurfs hätten einen ungerechtfertigten „Abschreckungseffekt“ gegenüber der Ausübung der „sozialen Wächterfunktion“ der Organisation zur Folge.

Zudem habe die überschießende Wahlgesetzgebung in Bezug auf die „Ruheperiode“, die sich auf alles Material erstreckt, das sich „auf“ eine laufende Wahl „bezieht“, die Ausübung der Freiheit Golos‘, dem nationalen Gesetzgeber Informationen und Ideen zu Fragen im Zusammenhang mit der Durchführung freier und fairer Wahlen mitzuteilen, unverhältnismäßig beeinträchtigt. Der EGMR vertrat in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass Wahlbeobachter generell in der Lage sein sollten, die Öffentlichkeit auf mögliche Verstöße gegen die Wahlgesetze und -verfahren aufmerksam zu machen, sobald diese auftreten, da eine solche Berichterstattung ansonsten ihren Wert und das auf sie bezogene Interesse weitgehend verlieren würde. Zwar falle die Verhängung einer kurzen „Schweige- und Bedenkzeit“ für aktive Wahlwerbung vor einer Wahl grundsätzlich in den Ermessensspielraum des Staates bei der Regulierung bestimmter Formen der Wahlwerbung zum Schutz der demokratischen Ordnung innerhalb des eigenen politischen Systems. Dieser Spielraum sei vorliegend aber durch die Sanktionierung der Verbreitung aller Inhalte, die als „in Bezug auf“ eine bevorstehende Wahl angesehen werden könnten, während der „Ruheperiode“ überschritten worden.

Der EGMR hielt einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.11.2021 16:22
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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