EGMR, Urt. v. 11.1.2022 - 78873/13

Meinungsfreiheit - Portugal: Verurteilung eines Journalisten wegen Äußerungen über Vereinigungen von Richtern und Staatsanwälten

Der EGMR bestätigt den besonderen Schutz der politischen Rede und Debatte. (Freitas Rangel gegen Portugal)

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer war ein (2014 verstorbener) bekannter portugiesischer Journalist. Er war wegen Äußerungen über die Berufsverbände der Richter und Staatsanwälte in einer Anhörung vor einem Parlamentsausschuss zum Thema Meinungsfreiheit und Medien in Portugal verurteilt worden. Seine Aussagen, in denen er insbesondere die Justiz und die Staatsanwaltschaften u.a. mit Einmischung in die Politik und weit verbreiteten Verstößen gegen die Geheimhaltung in Verbindung brachte, bestätigte er später vor anderen Gremien und in der Presse. Beide Berufsverbände erhoben getrennt voneinander Strafanzeige wegen „Beleidigung einer juristischen Person“. Der Beschwerdeführer wurde letztinstanzlich zu insgesamt 56.000 Euro an Geldstrafen und Ersatz des immateriellen Schadens wegen der Schädigung des guten Rufs der Kläger verurteilt.

Die Gründe:
Der Gerichtshof stellte eingangs fest, dass es sich bei den Klägern der innerstaatlichen Verfahren um bekannte und angesehene Berufsverbände handele, die häufig aufgefordert werden, sich vor dem Parlament zu Fragen im Zusammenhang mit der Funktionsweise der Justiz zu äußern. Er wies aber darauf hin, dass der Schutz des guten Rufs einer juristischen Person nicht den gleichen Stellenwert habe wie der Schutz des Rufs oder der Rechte von Einzelpersonen.

Die Verurteilung des Beschwerdeführers habe einen Eingriff in die Ausübung seiner Meinungsfreiheit dargestellt, der gesetzlich vorgesehen gewesen sei und die legitimen Ziele des Schutzes des guten Rufs oder der Rechte anderer sowie der Aufrechterhaltung der Autorität der Justiz verfolgt habe.

Der EGMR vertrat die Auffassung, dass die Themen, über die der Beschwerdeführer vor dem Parlamentsausschuss gesprochen hatte, nämlich die Weitergabe vertraulicher Informationen an Journalisten zur Förderung politischer Ziele, von öffentlichem Interesse gewesen seien. Ihre Erörterung vor dem Parlament sei Teil einer politischen Debatte, einem Bereich, in dem normalerweise ein hohes Maß an Schutz der Meinungsfreiheit gewährt werde, sodass die Behörden einen engen Ermessensspielraum hätten. Zudem habe dem Beschwerdeführer, obwohl er kein gewählter Vertreter war, als geladener Sachverständiger, der seine Ansichten vor einem parlamentarischen Ausschuss darlegte, ein höheres Schutzniveau zugestanden werden müssen, wie es auch für parlamentarische und politische Reden gelte. Die Öffentlichkeit der Sitzung des Parlamentsausschusses habe zur Verbreitung der Aussagen des Beschwerdeführers beigetragen.

Bei den meisten Äußerungen habe es sich – anders als von den innerstaatlichen Gerichten angenommen – um Meinungen des Beschwerdeführers und nicht um Tatsachenbehauptungen gehandelt. Der Gerichtshof gestand zu, dass deren Formulierung möglicherweise übertrieben und unglücklich gewesen sein mag. Allerdings könnten die Äußerungen als Illustration einer breiteren gesellschaftlichen Kritik an der unangemessenen Einmischung der Justiz insgesamt in Politik und Medien interpretiert werden, die von öffentlichem Interesse sei und die der Beschwerdeführer für wahr gehalten habe.

Der EGMR hielt insbesondere eine Unverhältnismäßigkeit der verhängten Geldbuße und des zu zahlenden Schadensersatzes fest. Sie hätten zwangsläufig eine abschreckende Wirkung auf die politische Diskussion haben müssen. Die innerstaatlichen Gerichte hätten es versäumt, eine angemessene Begründung für einen solchen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung zu geben. Vielmehr habe die Begründung ausschließlich auf den Rechten der Berufsverbände beruht, anstatt deren Rechte mit denen des Beschwerdeführers abzuwägen. Somit sei der Eingriff nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen.

Der EGMR stellte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 20.01.2022 10:07
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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