EGMR, Urt. v. 30.6.2022 - 20755/08 und Urt. v. 5.7.2022 - 42315/15
Meinungsfreiheit - Aserbaidschan und Zypern: Zivilrechtliche Verleumdungsklagen gegen Journalisten und Printmedien
Der EGMR stärkt in zwei voneinander unabhängigen, aber inhaltlich vergleichbaren Fällen die Meinungsfreiheit von Pressevertretern bei unverhältnismäßig hohen Schadensersatzforderungen wegen behaupteter Verleumdung. (Azadlıq und Zayidov gegen Aserbaidschan und Drousiotis gegen Zypern)
Az. 20755/08
Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer sind eine in Aserbaidschan erscheinende Zeitung, Azadlıq, und ihr Chefredakteur zum streitgegenständlichen Zeitpunkt. Die Zeitung hatte zwei Artikel über angebliche korrupte Aktivitäten von A., einem als Assistent des Präsidenten tätig gewesenen Regierungsbeamten, und dessen Verwandten veröffentlicht. A. erhob daraufhin eine zivilrechtliche Verleumdungsklage gegen die Zeitung und ihren Chefredakteur. Die innerstaatlichen Gerichte urteilten, dass die fraglichen Artikel einen Amtsträger verleumdet hatten. Sie ordneten die Veröffentlichung eines Widerrufs an und sprachen A. Schadensersatz für die Schädigung seines guten Rufs in Höhe von etwa 36.000 EUR (Azadlıq) bzw. 22.500 EUR (Zayidov) zu. Die Beschwerdeführer legten erfolglos Berufung bis zum Obersten Gerichtshof ein.
Die Gründe:
Der EGMR hielt fest, dass die fraglichen Artikel eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse betroffen hatten, nämlich die allgemeine Frage angeblicher korrupter Praktiken unter Regierungsbeamten und mit ihnen verbundenen Personen. Dabei sei A. namentlich genannt und unter Erwähnung sehr konkret beschriebener Immobilien und Vermögenswerte wiederholt direkt beschuldigt worden, eine „Korruptionsmaschine“ zu seinem Vorteil und dem seiner Verwandten aufgebaut oder betrieben zu haben. Der EGMR befand, dass es sich dabei, trotz einiger Redewendungen, die auf Werturteile hätten schließen lassen können, weitgehend um Tatsachenbehauptungen handele. Diese seien auf die Behauptung hinausgelaufen, dass A. schwere Straftaten begangen habe, weshalb die Beschwerdeführer nach der EMRK verpflichtet gewesen seien, eine ausreichende Tatsachengrundlage dafür zu liefern. Die Artikel hätten jedoch keine Verweise auf Quellen für die angegebenen Informationen enthalten. Eine unabhängige Überprüfung der Zuverlässigkeit angesprochener „Gerüchte“ oder der in den Artikeln enthaltenen Informationen sei gänzlich unterblieben. Der erste Artikel habe auch keinen Hinweis darauf enthalten, dass Informationen auf bloßen Gerüchten beruhten, sondern stellte sie unmissverständlich als Tatsache dar. Es könne daher nicht gesagt werden, dass die Beschwerdeführer die einschlägigen Sorgfaltsnormen eingehalten und in gutem Glauben gehandelt hatten, um „zuverlässige und präzise“ Informationen zu liefern. Ein solches Verhalten der Beschwerdeführer könne nicht als mit den Grundsätzen eines verantwortungsvollen Journalismus vereinbar angesehen werden, insbesondere in Anbetracht der Schwere der in den Artikeln aufgestellten Tatsachenbehauptungen. Diese Behauptungen hätten den Schweregrad erreicht, der geeignet sei, die Rechte von A. aus Art. 8 EMRK zu verletzen, und sie seien rufschädigend gewesen. Es sei auch nicht dargelegt worden, dass im vorliegenden Fall besondere Gründe vorgelegen hätten, die die Beschwerdeführer von ihrer Verpflichtung zur Überprüfung entbunden hätten.
Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles sei die Argumentation der innerstaatlichen Gerichte zwar kurz, aber dennoch ausreichend gewesen, da die Gerichte die beanstandeten Äußerungen überzeugend als Tatsachenbehauptungen identifiziert und Verstöße der Beschwerdeführer gegen die Sorgfaltspflicht festgestellt hatten. Allerdings sei die Verhältnismäßigkeit der gegen die Beschwerdeführer ergriffenen Maßnahmen, insbesondere die Höhe des zugesprochenen Schmerzensgeldes, nicht begründet worden. Die vom Beschwerdeführer Zayidov persönlich zu zahlende Summe etwa habe das Neunfache des jährlichen Jahresdurchschnittsgehalts in dem Land betragen. Die innerstaatlichen Gerichte hätten daher unbedingt prüfen müssen, ob derart strenge Sanktionen eine abschreckende Wirkung auf die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung durch die Presse haben können.
Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.
Az. 42315/15
Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer ist Journalist. Er hatte in einer überregionalen zypriotischen Tageszeitung einen Artikel über die Verlängerung der Amtszeit des P., ein hochrangiger Jurist der Justizverwaltung der Republik Zypern, über das gesetzliche Rentenalter hinaus durch die Regierung veröffentlicht. Daraufhin wurde ein zivilrechtliches Verleumdungsverfahren gegen den Beschwerdeführer angestrengt. Er und der Verlag wurden u.a. verurteilt, P. Schadensersatz in Höhe von 25.000 Euro zuzüglich Zinsen zu zahlen. Rechtsmittel des Beschwerdeführers blieben erfolglos.
Die Gründe:
Der EGMR befand, dass der strittige Artikel sich direkt auf P. bezogen, ihn als „Speichellecker“ dargestellt und negativ über die Verlängerung seiner Dienstzeit geäußert habe. Die Charakterisierungen von P. seien geeignet gewesen, seinen guten Ruf zu schädigen und ihm in seinem beruflichen und sozialen Umfeld Schaden zuzufügen. Sie hätten somit den erforderlichen Schweregrad erreicht, um P. in seinen Rechten nach Art. 8 EMRK verletzen zu können. Bei der Dienstzeitverlängerung habe es sich um eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse gehandelt, die zu erheblichen Kontroversen und politischen Debatten geführt habe. Sie sei Gegenstand anderer Veröffentlichungen und Kommentare gewesen, in denen die Entscheidung u.a. als Skandal bezeichnet worden sei. Für Beschränkungen nach Art. 10 Abs. 2 EMRK bestehe daher wenig Raum. Wegen seiner herausgehobenen Position im innerstaatlichen Justizsystem, seiner publizistischen Tätigkeit und der Teilnahme an öffentlichen Diskussionen habe P. auch mit einer Person des öffentlichen Lebens gleichgesetzt werden können, sodass er ein höheres Maß an Toleranz gegenüber öffentlicher Kontrolle hätte aufbringen müssen. Die Äußerungen des Beschwerdeführers seien zwar derb, grob und übertrieben gewesen, müssten aber im Kontext der allgemein geäußerten Kritik an dem Vorgang betrachtet werden.
Der Beschwerdeführer habe sich eines ätzenden und ironischen Stils mit harschen Ausdrücken bedient, mit dem Ziel, Kontroversen zu schüren, die Öffentlichkeit zu provozieren und ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Die innerstaatlichen Gerichte hätten sich stark auf den Ton des Artikels und die übertreibenden verwendeten Ausdrücke konzentriert, ohne jedoch den anderen relevanten Faktoren, die bei der Abwägung zwischen den auf dem Spiel stehenden konkurrierenden Rechten zu berücksichtigen seien, eine angemessene Bedeutung beizumessen. Insbesondere sei die Tatsache, dass P. eine Person des öffentlichen Lebens und dass die Verlängerung seines Dienstes eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse gewesen sei, nicht ausreichend in ihre Bewertung einbezogen und der Artikel nicht vor dem allgemeinen Hintergrund zum Zeitpunkt seiner Abfassung betrachtet worden. Außerdem gebe es keinen Hinweis darauf, dass der Artikel bösgläubig veröffentlicht worden war oder dass die innerstaatlichen Gerichte ihn als solchen betrachtet hatten. Zudem seien die in dem Artikel verwendeten Formulierungen im Wesentlichen Werturteile und keine konkreten Tatsachenbehauptungen. Die von den innerstaatlichen Gerichten zur Rechtfertigung des Eingriffs angeführten Gründe seien zwar stichhaltig, aber nicht ausreichend gewesen. Zudem sei der als Schadensersatz zugesprochene Betrag in absoluten Zahlen ungewöhnlich hoch gewesen und habe in keinem Verhältnis zu den verfolgten Zielen gestanden. Dies sei geeignet, von einer offenen Diskussion über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse abschrecken.
Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.