EGMR, Urt. v. 30.8.2022 - 52808/09

Meinungsfreiheit - Russland: Durchsuchung der Wohnung eines Journalisten und Beschlagnahme seiner elektronischen Geräte

Der EGMR rügt fehlende Verfahrensgarantien zum Schutz der Vertraulichkeit von journalistischen Quellen im russischen Recht. (Sorokin gegen Russland)

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer, ein Journalist, veröffentlichte im Jahr 2008 auf der Website seiner Online-Wochenzeitung „Zyryanskaya zhizn“ ein Interview mit dem stellvertretenden Leiter des Innenministeriums der Republik Komi, einer Region der Russischen Föderation, in dem es um einen Skandal wegen Machtmissbrauchs durch hochrangige Beamte ging. Daraufhin wurde gegen den Ministerialbeamten ein Strafverfahren wegen Weitergabe von Informationen über interne operative Tätigkeiten, die nach russischem Recht als Staatsgeheimnis gelten, eingeleitet. Im Zuge der Ermittlungen wurde der Beschwerdeführer als Zeuge vernommen, verweigerte aber die Aussage, um sich nicht selbst zu belasten. Er wurde zudem vom Föderalen Sicherheitsdienst (FSB) aufgefordert, das Interview von der Internetseite zu entfernen, die Informationen über operative Tätigkeiten nicht erneut zu veröffentlichen und alle Aufzeichnungen des Interviews dem FSB vorzulegen. Der Beschwerdeführer weigerte sich, dem nachzukommen. Schließlich wurden seine Wohnung nach entsprechender gerichtlicher Genehmigung durchsucht und technische Geräte beschlagnahmt, die Informationen zu dem Interview enthielten, nämlich sein Computer, vier Festplatten und eine Audiokassette. Rechtsmittel gegen den Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss blieben ohne Erfolg.

Die Gründe:
Der EGMR hielt fest, dass die Durchsuchung und die Beschlagnahme einen Eingriff in die Ausübung des Rechts des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung dargestellt hatten. Die Maßnahmen hätten eine Rechtsgrundlage im innerstaatlichen Recht gehabt, jedoch mangele es dort an Verfahrensgarantien zum Schutz journalistischer Quellen bei der Beschlagnahme und Überprüfung von Datenträgern. So gebe es im russischen Strafprozessrecht zwar bestimmte Schutzvorkehrungen für Durchsuchungen und Beschlagnahmen im Allgemeinen, der Schutz vertraulicher journalistischer Quellen sei in diesem Zusammenhang jedoch nicht ausdrücklich vorgesehen. Zudem sei zum damaligen Zeitpunkt nicht klar gewesen, ob und wenn ja wie innerstaatliche Rechtsvorschriften, die die Redakteure eines Massenmedienunternehmens verpflichten, Informationen oder Quellen, die unter der Bedingung der Vertraulichkeit oder Anonymität zur Verfügung gestellt wurden, nicht weiterzugeben, im Zusammenhang mit Durchsuchungs- und Beschlagnahmungsmaßnahmen bei einem Journalisten anzuwenden sind. Der innerstaatliche Rechtsrahmen scheine daher zum maßgeblichen Zeitpunkt den erforderlichen Rechtsschutz journalistischer Quellen vor willkürlichen Eingriffen nicht gewährleistet zu haben.

Darüber hinaus entschied der Gerichtshof, dass der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen sei. Zwar sei mit der Absicht, Straftaten zu verhindern, ein legitimes Ziel verfolgt worden. Die Durchsuchung sei jedoch ohne Verfahrensgarantien gegen Eingriffe in die Vertraulichkeit der journalistischen Quellen des Beschwerdeführers durchgeführt worden. So habe das für die Genehmigung des Durchsuchungsbeschlusses zuständige Gericht in seiner Begründung keine Abwägung vorgenommen: Die Prüfung der Frage, ob das Ermittlungsinteresse an der Sicherung von Beweisen ausgereicht habe, um das allgemeine öffentliche Interesse am Schutz journalistischer Quellen zu überwiegen, sei unterblieben. Auch der vom Beschwerdeführer angerufene Oberste Gerichtshof der Region habe sich auf die Prüfung der formalen Rechtmäßigkeit der Durchsuchung beschränkt, anstatt auch die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des Vorgehens der Ermittlungsbehörden zu beurteilen.

Zudem seien bei der gerichtlichen Genehmigung der Durchsuchungs- und Beschlagnahmungsmaßnahmen die Ermittlungsbehörden nicht angewiesen worden sicherzustellen, dass ein Zugriff auf die personenbezogenen und beruflichen Daten des Beschwerdeführers, die nicht in Verbindung zu dem Strafverfahren stehen, unterbleibt. Eine spezifische Begründung für die Feststellung, dass eine Durchsuchung aller Daten des Beschwerdeführers für die Ermittlungen erforderlich sei, habe es seitens des Gerichts nicht gegeben. Mangels Prüfverfahren oder anderer Methoden, die die Vertraulichkeit der journalistischen Quellen des Beschwerdeführers und anderer Informationen, die nicht mit der Strafsache in Zusammenhang stünden, schützen könnten, fehle es auch an Anhaltspunkten, dass auf die Gesamtheit  der Daten und Informationen des Beschwerdeführers, die nicht mit dem Strafverfahren in Zusammenhang standen, nicht unmittelbar durch die Untersuchungsbehörden Zugriff genommen wurde. Die Durchsuchung sei daher in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 16.09.2022 14:01
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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