Aktuell in der AfP

Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen und allgemeines Persönlichkeitsrecht (Rox, AfP 2022, 304)

Der Koalitionsvertrag der „Ampel“-Regierungsparteien 2021 hält zum Thema Justiz fest, dass Gerichtsentscheidungen grundsätzlich anonymisiert in einer Datenbank öffentlich verfügbar sein sollen. Dies klingt nach der flächendeckenden Implementierung einer längst bestehenden, verfassungsrechtlich begründeten Selbstverständlichkeit. Doch setzt sich das Veröffentlichungsgebot auch dann durch, wenn die Beteiligten trotz Anonymisierung erkennbar bleiben? Die damit verbundenen Rechtsfragen lassen sich an einer Entscheidung des OLG Karlsruhe (OLG Karlsruhe v. 22.12.2020 – 6 VA 24/20) exemplifizieren, die Gegenstand einer anhängigen Verfassungsbeschwerde ist.

I. Ausgangssituation
II. Der dem OLG Karlsruhe unterbreitete Sachverhalt
III. Die Perspektive des durch eine Veröffentlichung Betroffenen

1. Recht auf informationelle Selbstbestimmung
2. Sozialer Geltungsanspruch und Ehre
3. Konkurrenzen
IV. Vorbehalt des Gesetzes
1. Akteneinsichtsrechte
2. Grundsatz der Verfahrensöffentlichkeit
3. Datenschutzrecht
V. Auslegung und Anwendung der Ermächtigungsgrundlage
1. Zuständigkeit für die Aufgabe
2. Erforderlichkeit
3. Zulässigkeit der Verarbeitung nach § 23 Abs. 1 BDSG
VI. OLG Karlsruhe: Abschließende Betrachtung
VII. Zusammenfassung


I. Ausgangssituation

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In seiner grundlegenden Entscheidung aus dem Jahr 1997 hat das BVerwG die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen als eine mit einer Rechtspflicht belegte öffentliche Aufgabe charakterisiert, welche sich jedenfalls auf solche – zuvor anonymisierten und neutralisierten – Entscheidungen erstrecke, die in der Öffentlichkeit auf Interesse stoßen (können). Deren Wurzeln verortet es in drei elementaren Verfassungsprinzipien: dem Rechtsstaatsgebot einschließlich der Justizgewährungspflicht, dem Demokratiegebot und dem Grundsatz der Gewaltenteilung.

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Seither war die Judikatur vorwiegend mit der Frage der Herausgabepflicht der Gerichte auf Anfrage der Presse oder sonstiger Dritter befasst. In jüngerer Zeit rücken jedoch gerade solche Prozesse in den Fokus, in denen die Verfahrensbeteiligten um Rechtsschutz gegen die Veröffentlichung sie betreffender Gerichtsentscheidungen nachsuchen, und zwar nicht nur auf dem – intuitiv insoweit nächstliegenden – Gebiet des Strafrechts, sondern ebenso etwa nach finanzgerichtlichen Verfahren (§ 30 AO). Besondere Aufmerksamkeit ist dem von dem Ehemann einer ehemaligen Bundesministerin geführten Rechtsstreit zuteil geworden, in dem sich dieser gegen die Veröffentlichung der seine Entfernung aus dem Beamtenverhältnis behandelnden verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zu wehren versuchte. Anschaulich ist schließlich der Fall eines Hochschullehrers, der die Veröffentlichung einer ihn betreffenden Entscheidung des BGH wegen unzureichender Anonymisierung und einer dadurch bedingten Ehrverletzung unterbinden wollte (II.). Das streitbefangene Urteil wurde aufgrund dessen mit zwei Jahren Verzögerung publiziert, nachdem das OLG Karlsruhe das Anliegen des Antragstellers im Verfahren nach § 23 EGGVG abschlägig beschieden hatte. Gegen diese Entscheidung ist beim BVerfG eine Verfassungsbeschwerde anhängig.

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All dies belegt, dass für die (grund-)rechtliche Aufarbeitung der Perspektive der Betroffenen ein vitales Bedürfnis besteht. Dies ist Ziel des Beitrags, der zu diesem Zweck drei Problemkreise beleuchtet. So bedarf es in einem ersten Schritt der präzisen Bestimmung des Schutzgehaltes des berührten Grundrechts und insoweit der dogmatisch zutreffenden Verortung der Thematik (III.). Sobald ein Grundrechtseingriff in Rede steht, ist zweitens das Feld des Vorbehalts des Gesetzes betreten (IV.). Die einschlägige Ermächtigungsgrundlage muss sodann im Lichte der Grundrechte ausgelegt und angewandt werden (V.).

II. Der dem OLG Karlsruhe unterbreitete Sachverhalt
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Zur Illustration und Umrahmung sei der dem OLG Karlsruhe zur Entscheidung gestellte Sachverhalt kurz vorgestellt: Im Ausgangsverfahren war der Antragsteller, ordentlicher Universitätsprofessor, Inhaber eines Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Bearbeiter in einem BGB-Großkommentar, im Wesentlichen gegen die Beendigung seines Autorenvertrages durch den beklagten Verlag vorgegangen. Letzterer hatte ihm vorgeworfen, einen „chaotischen“ und mehrarbeitsintensiven Manuskriptabgabe- und Herstellungsprozess verursacht zu haben, indem er u.a. erstreckt auf einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren wiederholt vereinbarte Abgabefristen versäumt und schließlich ein unzureichendes Ergebnis abgeliefert habe. Nach dem erfolglosen Versuch, die Zusammenarbeit einvernehmlich zu beenden, hatte sich der Verlag zwecks Einholung einer nach den einbezogenen AGB erforderlichen Zustimmung unter Namhaftmachung der Beanstandungen schriftlich an die weiteren Redaktoren gewandt, um deren Einverständnis für die „Trennung“ von dem Antragsteller einzuholen. Daraufhin stimmten 20 von insgesamt 23 Bandredaktoren einer Neuvergabe der Kommentierung zu.

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Der BGH hat die das Beendigungsschreiben stützende Vertragsklausel wegen unangemessener Benachteiligung des Vertragspartners i.S.d. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB als unwirksam beurteilt, weil sie die Nicht-Berücksichtigung eines Kommentators bei einer künftigen Neuausgabe nicht an das Vorliegen und die Angabe eines sachlichen Grundes binde. Dem Begehren des Antragstellers, den Verlag wegen einer durch das Redaktoren-Anschreiben bedingten Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts zur Zahlung eines Schmerzensgeldes zu verurteilen, hat der BGH demgegenüber eine Absage erteilt, da der Brief weder unwahre Tatsachenbehauptungen enthalte noch die Grenze zur Schmähkritik überschreite.

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Diesen Sachverhalt wollte der Antragsteller nun nicht auch noch in juristischen Datenbanken und Fachzeitschriften perpetuiert sehen: Durch die Veröffentlichung der aus seiner Sicht unzureichend anonymisierten Fassung des Revisionsurteils würde sein wissenschaftlicher Ruf „so immens geschädigt [...], dass er es bereuen würde, den Rechtsstreit gegen den beklagten Verlag geführt zu haben“. Denn er sei ohne nennenswerten Aufwand identifizierbar, indem er als Inhaber eines Lehrstuhls für „Bürgerliches“ Recht bezeichnet werde, der an einem Großkommentar gerade zum „BGB“ – unter Nennung des Erscheinungszeitpunktes der gegenständlichen Kommentierung – mitarbeite, und indem darüber hinaus offenbart werde, dass seine Ehefrau, ebenfalls Professorin und Verfasserin im selben Werk, mit einer vergleichbaren Situation konfrontiert worden sei.

III. Die Perspektive des durch eine Veröffentlichung Betroffenen
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Der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, kann durch die hoheitlich veranlasste Veröffentlichung einer Gerichtsentscheidung nur dann überhaupt betroffen sein, wenn trotz Anonymisierungsmaßnahmen eine Bestimmbarkeit der Person in dem Sinne verbleibt, dass diese...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 16.09.2022 16:14
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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