Aktuell in der AfP

Die Gegengewichtsfunktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (Wagner, AfP 2022, 377)

Dem Nebeneinander von öffentlich-rechtlichem und privatem Rundfunk in der dualen Rundfunkordnung liegt nach der Rechtsprechung des BVerfG u.a. der Gedanke zugrunde, dass dem abgabenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Funktion eines publizistischen Gegengewichts zu nach privatwirtschaftlichen Rationalitäten agierenden Rundfunkanbietern zukommt. In neuen Entscheidungen hat das BVerfG nun eine Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks skizziert, die ebenfalls mit einer Gegengewichtsvorstellung verbunden wird, dabei aber weit über die duale Rundfunkordnung hinausreicht: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk soll unter den Umgebungsbedingungen der internetbasierten Kommunikation Orientierungshilfe durch professionelle Selektion und verantwortliches journalistisches Handeln bieten. Der folgende Beitrag widmet sich der vergleichenden Betrachtung dieser Gegengewichtsfunktionen bezogen auf ihre grundsätzlichen verfassungs- und unionsrechtlichen Implikationen.

1. Hintergrund
2. Gegengewichtsfunktion I und II
3. Verfassungsrechtliche Ausgangslage
4. Gegengewichtsfunktion I: Linearer Programmrundfunk
5. Gegengewichtsfunktion II: Online-Kommunikation
6. Relevanz der Unterscheidung
7. Gegengewichtsfunktionen und Medienkonkurrenzverhältnisse
8. Schlussbemerkung



1. Hintergrund
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Die sog. dienende Funktion der Rundfunkfreiheit im Allgemeinen und der Funktionsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Besonderen sind seit Jahrzehnten Gegenstand umfangreicher bundesverfassungsgerichtlicher Beschäftigung. Die Maßgaben für die Konkretisierung dessen, was der öffentlich-rechtliche Rundfunk für den in einer demokratischen Ordnung essenziellen Kommunikationsprozess zu leisten hat, richtet das BVerfG an der übergeordneten, als verfassungsrechtlich vorgegeben erachteten Zielprogrammierung der Rundfunkfreiheit aus. Diese soll einen freien öffentlichen und individuellen Meinungsbildungsprozess im Rundfunk gewährleisten. Den hieraus deduzierten Schlussfolgerungen kommt für die medienpolitische Gestaltung eine gleichermaßen weichenstellende wie maßstabsetzende Bedeutung zu: Das, was verfassungsrechtlich bezogen auf den Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als funktionserforderlich angesehen wird, ist dem politischen Aushandlungsprozess weitestgehend entzogen. Dies erklärt den oftmals angestrengten Blick auf bestehende oder erwartete „Vorgaben aus Karlsruhe“ und verleitet nicht selten zur Exegese oftmals hochgradig offener und selbst ebenso konkretisierungs- wie kontextualisierungsbedürftiger Aussagen des Gerichts – nicht nur, aber schon besonders mit Blick auf den Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Die dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk vom BVerfG zuerkannte Gegengewichtsfunktion im Bereich der Internetkommunikation ist diesbezüglich ein gegenwärtiges Beispiel.

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Die tradierten Aussagen zum verfassungsrechtlich erforderlichen Angebotsumfang des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, in deren Kontext auch die Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, als publizistisches Gegengewicht zum privaten Rundfunk zu wirken, Erwähnung findet, wurzeln in den Umgebungsbedingungen einer dualen Rundfunkordnung. Sie beziehen sich ihrer Genese wie Zielrichtung nach auf das „Funktionieren“ dieses Systems vor der Folie der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung der Rundfunkfreiheit. In ihrem Zentrum steht die Sorge des BVerfG um eine ausgewogene Angebotsvielfalt im linearen Programmrundfunk.

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Die seit Anfang der 2000er Jahre stattfindenden Umbrüche in der Medienlandschaft durch die Möglichkeiten netzbasierter Kommunikationsformen machen es indes auch für das BVerfG bei seinen neueren Entscheidungen unumgänglich, die veränderten medialen Angebote sowie Distributions- und Rezeptionsbedingungen zu berücksichtigen und in die verfassungsrechtliche Bewertung einzubeziehen. Hierbei stellten und stellen sich bezogen auf den verfassungsrechtlich geforderten Auftragsumfang des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zwei wesentliche Fragen: Haben die Maßgaben zum Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der dualen Rundfunkordnung angesichts der Umbrüche im allgemeinen Medienangebot und in der Mediennutzung noch Bestand? Und: Sind die rundfunkverfassungsrechtliche Sonderdogmatik der dienenden und damit ausgestaltungsbedürftigen Freiheit sowie die hieran angeknüpfte Sonderrolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für die Absicherung der freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung gleichsam in den Bereich der Internetkommunikation „hineingewachsen“?

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Im Umfeld der Beantwortung dieser Fragen hat das BVerfG in zwei jüngeren Entscheidungen Anlass für Überlegungen zu einer neuen „Gegengewichtsfunktion“ des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Bereich der Netzkommunikation gegeben. Vor diesem Hintergrund ist es das Anliegen des vorliegenden Beitrags, die unterschiedlichen vom BVerfG angesprochenen Gegengewichtsfunktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu kontextualisieren und rechtlich zu bewerten. Sie werden dazu zunächst näher mit Blick auf ihre Genese und verfassungsrechtliche Einbettung betrachtet. Der hierin eingeschlossene konzeptionelle Vergleich wird aufzeigen, dass die Gegengewichtsfunktionen auf zu unterscheidenden Ebenen liegen und deswegen unterschiedliche normative Implikationen haben. Letztere werden dann nochmals gesondert vor dem Hintergrund der Medienkonkurrenzverhältnisse und der unionsrechtlichen Maßstäbe beleuchtet, bevor eine Schlussbemerkung den Beitrag abschließt.

2. Gegengewichtsfunktion I und II
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Zunächst ein kurzer Blick auf die einschlägigen Urteilspassagen, in denen jeweils eine „Gegengewichtsfunktion“ des öffentlich-rechtlichen Rundfunks beschrieben wird. Die folgende findet sich so ausdrücklich erstmals im Urteil zum ZDF-Staatsvertrag und lautet:

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„Im Rahmen der dualen Rundfunkordnung kommt dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und der von ihm sicherzustellenden Erfüllung des klassischen Funktionsauftrags der Rundfunkberichterstattung besondere Bedeutung zu. Er hat die Aufgabe, als Gegengewicht zu den privaten Rundfunkanbietern ein Leistungsangebot hervorzubringen, das...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 18.10.2022 16:40
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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