EGMR Urt. v. 20.9.2022 - 57195/17

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens - Portugal: Veröffentlichung eines Buches über die Eltern von Madeleine McCann

Der EGMR verneint eine Verletzung von Art. 8 EMRK wegen der in einem Buch vertretenen These einer Verwicklung der Eltern von Madeleine McCann in deren Verschwinden. (McCann und Healy gegen Portugal)

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer sind die Eltern von Madeleine McCann, die im Mai 2007 in Portugal verschwunden ist. Nach ihrem Verschwinden wurde gegen die Beschwerdeführer ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, das im Juli 2008 mangels Beweisen eingestellt wurde. Kurz darauf veröffentlichte A., der zunächst mit den Ermittlungen beauftragte und später von seinen Aufgaben entbundene Polizeiinspektor, auf der Grundlage der öffentlichen Ermittlungsakte ein Buch, in dem er die Eltern beschuldigte, in das Verschwinden ihrer Tochter verwickelt gewesen zu sein. Am Tag des Erscheinens des Buches wurde zudem ein Zeitungsinterview mit A. veröffentlicht und 2009 ein Dokumentarfilm auf Grundlage des Buches im Fernsehen ausgestrahlt. Klagen der Beschwerdeführer mit dem Ziel eines Verbots des Buches und des Films wurden von den portugiesischen Gerichten abgewiesen, Rechtsmittel blieben erfolglos.

Die Gründe:
Der EGMR befand, dass die innerstaatlichen Gerichte zurecht zu dem Ergebnis gekommen waren, dass das Recht des A. auf freie Meinungsäußerung gegenüber dem Recht der Beschwerdeführer auf Achtung ihres guten Rufs und auf Unschuldsvermutung Vorrang habe. Die in Frage stehenden Rechte verdienten zwar gleichen Schutz. Eine Abwägung unter den Umständen des Falles bestätige aber das Ergebnis der innerstaatlichen Gerichte.

Bei dem Buch des A., dem dazugehörigen Dokumentarfilm und dem Interview habe es sich unbestreitbar um Beiträge zu einer Debatte von öffentlichem Interesse mit Informationen aus der öffentlich zugänglichen Ermittlungsakte gehandelt. Die umfangreiche Medienberichterstattung über den Fall zeige deutlich das Interesse auf nationaler und internationaler Ebene. Auch hätten sich die Beschwerdeführer, wenn auch mit dem alle Möglichkeiten ausschöpfenden Ziel, ihre Tochter zu finden, um mediale Aufmerksamkeit bemüht. Sie seien vor dem Vorfall in der Öffentlichkeit zwar nicht bekannt gewesen, hätten durch ihre Medienpräsenz aber Bekanntheit erlangt und seien zu Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens geworden. Infolgedessen hätten sie sich unweigerlich und wissentlich einer genauen Prüfung ihrer Worte und Taten ausgesetzt.

Der Gerichtshof schloss sich den innerstaatlichen Gerichten darin an, dass die angefochtenen Äußerungen Werturteile darstellten, die auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruhten, nämlich den der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebrachten Ermittlungsergebnissen. Die im Buch vorgetragene Theorie der Verwicklung der Beschwerdeführer in den Fall sei im Rahmen der strafrechtlichen Ermittlungen vertreten worden und habe zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen sie geführt. Dieses Verfahren habe national und international großes öffentliches Interesse erregt und zu erheblichen Diskussionen und Kontroversen geführt. Die Theorie von A. sei eine von mehreren Meinungen in einer Debatte von öffentlichem Interesse gewesen. Da die Äußerungen erst nach der Einstellung des Strafverfahrens gegen die Beschwerdeführer getätigt wurden, standen zwar ihr durch Art. 8 EMRK gewährleisteter guter Ruf und die Wahrnehmung der Öffentlichkeit auf dem Spiel, jedoch nicht mehr die Unschuldsvermutung. Auch das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Funktionsweise der Justiz sei vorliegend ein wichtiger Aspekt gewesen.

Selbst wenn man von einer Schädigung des guten Rufs der Beschwerdeführer ausgeht, sei dies nicht aufgrund der von A. aufgestellten Hypothese erfolgt, sondern aufgrund der gegen sie geäußerten Verdächtigungen und Ermittlungen. Die einschlägigen Informationen seien der Öffentlichkeit noch vor Zugänglichmachen der Ermittlungsakte an die Medien und Veröffentlichung des fraglichen Buchs zur Kenntnis gebracht worden. Außerdem habe es nicht den Anschein, dass A. durch persönliche Feindseligkeit gegenüber den Beschwerdeführern motiviert war.

Das Buch sei noch während der laufenden Ermittlungen geschrieben und gedruckt worden, weshalb A. vorsichtshalber einen Vermerk über den Ausgang des Verfahrens hätte hinzufügen können. Das Unterlassen eines solchen Hinweises könne jedoch nicht als Beweis für A.s Bösgläubigkeit dienen. Zudem sei in der Fernseh-Dokumentation auf die Einstellung des Verfahrens hingewiesen worden.

Die Beschwerdeführer hätten ihre Medienkampagne nach der Buchveröffentlichung fortgesetzt. Insbesondere hätten sie an einem anderen Dokumentarfilm über das Verschwinden ihrer Tochter mitgewirkt und internationalen Medien weiterhin Interviews gegeben. Die Veröffentlichung des Buches habe bei den Beschwerdeführern zwar unbestreitbar Wut, Angst und Kummer ausgelöst. Es schien aber nicht, dass das Buch oder der Film ernsthafte Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen der Beschwerdeführer oder auf ihre legitimen und andauernden Versuche, ihre Tochter zu finden, gehabt hatte.

In Anbetracht der besonderen Umstände des vorliegenden Falles hätte ein Urteil gegen A. eine abschreckende Wirkung auf das Recht auf freie Meinungsäußerung in Bezug auf Angelegenheiten von öffentlichem Interesse gehabt.

Der EGMR verneinte einstimmig eine Verletzung von Art. 8 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.10.2022 14:28
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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