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Ehrschutz im Internet - Neuorientierung nach dem Künast-Beschluss? (Peifer, AfP 2023, 113)

Der Ehrschutz schien an Bedeutung ebenso verloren zu haben wie die Ehre als Schutzgut. Das hat sich mit der im Internet verbreiteten Debattenkultur massiv verändert. Hier ist der Ehrschutz wieder von hoher Aktualität. Der Beitrag stellt den insoweit paradigmatischen Fall um Renate Künast vor und beschreibt das Phänomen des Ehrschutzes und die veränderte Wahrnehmung dieses Schutzguts. Er stellt zusammen, welche Umstände zu dem Eindruck geführt haben, dass die Ehre als Schutzgut an Bedeutung verloren hat, wendet sich aber auch Gegentendenzen zu, die auch mit der steigenden Bedeutung der Reputation in Wirtschafts- und Berufswelt zusammenhängen. Danach wird erörtert, inwieweit der Beschluss des BVerfG im Künast-Fall auch zu einer juristischen Neuorientierung bzgl. der Grenzen der Meinungsfreiheit führt und welche Auswirkungen diese Neuorientierung auf den Kommunikationsrahmen für Internetdiensteanbieter durch NetzDG und DSA hat.

I. Der Künast-Fall – Paradigma für ein wachsendes Interesse am Schutz der Ehre
II. Ehr- und Reputationsschutz: Inhalt und Reichweite

1. Allgemeine Entwicklungen
2. Tendenzen im Bereich von Unternehmenspersönlichkeit und beruflicher Ehre
3. Die undefinierte Ehre
III. Tendenzen in der Rechtsprechung bis zu den Künast-Entscheidungen der Berliner Gerichte
IV. Neuerungen für den Reputationsschutz im Internet

1. Bestand der Grundsätze zum Schutz der Meinungsfreiheit
2. Modifikationen: Betonung des Persönlichkeitsschutzes
a) Schmähkritik und Formalbeleidigungen – Klarstellungen
b) Stärkung des Persönlichkeitsschutzes von Amtsträgern
c) Art und Form der Äußerung – Ist das Internet schriftlich oder mündlich?
d) Beitrag zur Meinungsbildung oder Emotionalisierung?
e) Verankerung von Hassrede und Gruppendiffamierung im deutschen Recht
V. NetzDG und DSA
VI. Ergebnis und Ausblick


I. Der Künast-Fall – Paradigma für ein wachsendes Interesse am Schutz der Ehre

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Der Künast-Fall hat Wellen geschlagen. Ausgangspunkt war ein Zitat, das einen Zwischenruf der Politikerin in einer Plenarsitzung des Berliner Abgeordnetenhauses am 29.5.1986 betraf. Auf die Frage eines CDU-Abgeordneten, wie man dazu stehe, dass die nordrhein-westfälischen Grünen für eine Aufhebung der Strafandrohung für sexuelle Handlungen mit Kindern Position ergriffen hätten, warf die im Saal sitzende Abgeordnete Künast den Satz ein: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiele ist“ Diese Äußerung wurde Jahre später, nämlich in einem Online-Artikel der Welt vom 24.5.2015, wie folgt kommentiert: „Klingt das nicht, als wäre Sex mit Kindern ohne Gewalt okay?“ Der auf Facebook verbreitete Welt-Artikel wurde Ende Oktober 2016 unter dem Titel „K. findet Kinderficken ok, solange keine Gewalt im Spiel ist“ mit einem Bild der Politikerin versehen und verlängert zu dem Satz „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist, ist Sex mit Kindern doch ganz ok. Ist mal gut jetzt.“ Trotz einer Unterlassungsklage wurde der Post 2019 erneut eingestellt. Zu dieser Äußerung gab es 22 schmähende Kommentare, die schärfste Herabsetzungen enthielten, darunter die Bezeichnungen „Stück Scheisse“, „Krank im Kopf“, „altes grünes Drecksschwein“, „Geisteskrank“, „kranke Frau“, „Schlampe“, „Gehirn Amputiert“, „Drecks Fotze“, „Sondermüll“, „Alte perverse Dreckssau“.

2
Die Politikerin verlangte nach § 14 Abs. 3 TMG i.V.m. § 1 Abs. 3 NetzDG vom Dienstbetreiber Auskunft über die Identität der Äußernden. Der Auskunftsanspruch wurde vom LG Berlin zurückgewiesen, weil sämtliche Äußerungen zwar scharf, aber wegen des Zusammenhangs mit einer Debatte über die Einstellung zu sexuellen Handlungen mit Kindern noch durch die Meinungsäußerungsfreiheit gedeckt und damit nicht rechtswidrig nach § 1 Abs. 3 NetzDG seien. Der Beschwerde der Betroffenen (§§ 53 ff. FamFG) half das LG ab, indem es fünf der Äußerungen als Formalbeleidigungen ansah, die auch die Grenze des § 193 StGB
überschritten.

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Das KG bestätigte die Abhilfeentscheidung des LG in der Form, die sie durch die Abhilfe erhalten hatte, hielt aber weitere sechs Äußerungen für rechtswidrig und den Auskunftsanspruch auch insoweit für begründet. Sowohl die Abhilfeentscheidung als auch die Entscheidung des KG hielten eine Abwägung zwischen Persönlichkeits- und Äußerungsinteressen für erforderlich, waren aber der Auffassung, dass bei dieser Abwägung im konkreten Fall der Ehrschutz nur teilweise überwiege. Darauf wurden insgesamt zwölf Äußerungen, darunter auch diejenigen, die besonders drastische und sexualisierte Beleidigungen darstellten, als unzulässig beurteilt. Es blieben zehn Äußerungen übrig, die als zulässig angesehen wurden, nämlich: „Pädophilen-Trulla“, „Die alte hat doch einen Dachschaden die ist hol wie Schnittlauch man kann da nur noch“, „Mensch...was bist Du Krank im Kopf!!!“, „Die ist Geisteskrank“, „Ich könnte bei solchen Aussagen diese Personen die Fresse polieren“, „Sperrt diese kranke Frau weck sie weiß nicht mehr was sie redet“, „Die sind alle so krank im Kopf“, „Gehirn Amputiert“, „Kranke Frau“, „Sie wollte auch Mal die hellste Kerze sein, Pädodreck“. Zwar handele es sich auch hierbei um „drastische Wortschöpfungen, die in ehrverletzender und verbal entgleisender Form eine Nähe zur Pädophilen-Szene aufbauen und der Antragstellerin ein ausreichendes Urteilsvermögen absprechen.“ Doch habe „die Antragstellerin durch ihren zumindest interpretationsbedürftigen Zwischenruf in der damaligen Debatte um häusliche Gewalt in der späteren Diskussion über Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung eine Angriffsfläche geliefert, an der sich Kritik festmachen kann.“ Das KG ging von einer Sachdebatte aus, die gegenüber einer Politikerin mit scharfen und überspitzten Formulierungen geführt werden dürfe. Gesichtspunkte der Debattenkultur oder das Bedürfnis nach einem besseren Schutz der Politikvertreter seien zwar beachtlich, genügten nach den Maßstäben der Rechtsprechung aber nicht, um diese Äußerungen zu verbieten.

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Gegen die Ursprungs- und die Abhilfeentscheidung des LG Berlin sowie gegen die nicht abhelfenden Beschlüsse des KG legte die Betroffene Verfassungsbeschwerde ein. Das BVerfG gab ihr statt und verwies den Fall zur erneuten Entscheidung an das KG zurück. Inhaltlich kritisierte es, dass alle instanzgerichtlichen Entscheidungen den Eindruck erweckten, einen Vorrang des Persönlichkeitsrechts nur anzunehmen, wenn eine Schmähkritik vorliegt. Sofern eine Debatte einen Sachbezug habe, fehle es daran zwar. Die auch jenseits der Schmähkritik erforderliche Abwägung zwischen Äußerungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz hätten die Gerichte aber nicht zutreffend vorgenommen. Insb. genüge das Vorhandensein eines Sachbezugs nicht, um jenseits der Schmähkritik von einem Vorrang der Äußerungsfreiheit auszugehen. Das KG hat mit Beschl. v. 31.10.2022 die Auskunftserteilung nunmehr im vollen Umfang genehmigt.

II. Ehr- und Reputationsschutz: Inhalt und Reichweite

1. Allgemeine Entwicklungen

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Der Schutz der Ehre ist im einfachen Recht etabliert, im Strafrecht als Schutz gegen Beleidigung, üble Nachrede und Verleumdung, im Zivilrecht als Instrument auch gegen fahrlässige Beeinträchtigungen. Die juristischen Kommentare, die sich mit dem allgemeinen Persönlichkeitsschutz befassen, führen Ehre und Reputation allesamt auf. Seit den 1980er Jahren wird aber vermehrt angenommen, dass die Bedeutung der Ehre „merklich schwindet“. Der Ehrschutz wurde „trotz moderner Etikettierungen“ („personaler Geltungswert“, „Reputation“) als anachronistisch angesehen. In der Literatur der 1990er Jahre wird für den Bedeutungsschwund des Ehrschutzes im Recht das BVerfG verantwortlich gemacht, das häufig der kollidierenden Meinungs‑, Kunst- oder Pressefreiheit den Vorrang einräumte.

2. Tendenzen im Bereich von Unternehmenspersönlichkeit und beruflicher Ehre
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Auf zwei Feldern spielt die Ehre eine wachsende Rolle. Geht es um die Ehre als Sozialkapital, d.h. in Beruf und Unternehmensbereich um die Verteidigung des Rufs als „good corporate citizen“, ist der Kontext der Corporate-Social-Responsibility (CSR)- und Nachhaltigkeitsdebatte berührt. Das sog. Unternehmenspersönlichkeitsrecht ist hier Ausdruck der Verteidigung unternehmerischer Sozialgeltung. Auch im beruflichen Kontext geht es um die Verteidigung des guten Rufs als Sozialkapital von...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 17.05.2023 15:37
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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