Aktuell in der AfP

Öffentliches Interesse an gesellschaftlichem Engagement als notwendiges Abwägungskriterium im Äußerungsrecht (Lehr, AfP 2023, 291)

Ergänzung des Schutzes des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aufgrund neuerer höchstrichterlicher Rechtsprechung und Konsequenzen für den Anonymitätsgrundsatz in der Verdachtsberichterstattung

Der Künast-Beschluss des BVerfG hat nicht nur Auswirkungen auf die Einordnung von Hassäußerungen. Er ist auf andere äußerungsrechtliche Fragestellungen zu transformieren und verändert die Gewichtung im Abwägungsprozess zwischen Medienfreiheiten und Persönlichkeitsrecht zum Schutz von gesellschaftlich hervorgehobenem Engagement. Dies gilt insb. für die Frage der Zulässigkeit einer identifizierenden Verdachtsberichterstattung.

I. Ausgangslage und Fragestellung
II. Öffentliches Interesse am wirksamen Schutz des Persönlichkeitsrechts
III. Konsequenzen für den Anonymitätsgrundsatz in der Verdachtsberichterstattung

1. Bedeutung der Unschuldsvermutung für die identifizierende Verdachtsberichterstattung
2. Durchbrechungen des Anonymitätsschutzes
3. Transformation der Künast-Entscheidung des BVerfG auf die Anforderungen an eine identifizierende Verdachtsberichterstattung


I. Ausgangslage und Fragestellung
1
Im Zentrum des Presse- und Äußerungsrechts steht die grundrechtliche Kollisionslage zwischen den in Art. 5 Abs. 1 GG
verankerten Medienfreiheiten und dem in Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Das Äußerungsrecht verlangt immer wieder eine sorgfältige Güterabwägung zwischen miteinander kollidierenden Verbürgungen im Einzelfall. Diese jeweilige Einzelfallentscheidung stellt in nahezu idealtypischer Weise ein Beispiel für die – verfassungsrechtlich geforderte – Herstellung praktischer Konkordanz dar. Vor dem Hintergrund der durch das Internet gesteigerten gesellschaftlichen Kommunikationsdichte gilt dies im besonderen Maße für die Grenzen einer identifizierenden Verdachtsberichterstattung sowie für die Abgrenzung zwischen erlaubter zugespitzter Kritik und Schmähung. Aufgrund der neueren Rechtsprechung des BVerfG stellt sich zugespitzt die rechtliche Frage, ob in dieser einzelfallbezogenen Güterabwägung allein Individualinteressen oder auch Auswirkungen auf das gesellschaftliche und politische Zusammenleben zu berücksichtigen sind. In diesem Kontext bedarf es der Prüfung, ob es nicht verfassungsrechtlich geboten ist, mit einer Stärkung des Anonymitätsschutzes der personalisierten Skandalisierung und Herabsetzung einzelner Betroffener entgegenzuwirken.

II. Öffentliches Interesse am wirksamen Schutz des Persönlichkeitsrechts
2
Das BVerfG hat in jüngerer Zeit das äußerungsrechtliche Abwägungsgewicht des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch die Dimension eines funktionierenden freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens angereichert. Für den wirksamen Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sei über die Bedeutung der individuellen Interessen jeweils Betroffener hinaus auch das öffentliche Interesse an gesellschaftlichem Engagement zu berücksichtigen. Wenn gesellschaftliches Engagement, ungewöhnliche persönliche Eigenheiten, aneckende Positionen oder auch Irrtümer und Fehltritte den Betroffenen unbegrenzt vorgehalten und zum Gegenstand öffentlicher Erregung gemacht werden könnten, beeinträchtige das nicht nur die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten, sondern auch das Gemeinwohl. Die Selbstbestimmung als Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sei „eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens“.

3
Das BVerfG reichert in der Entscheidung „Recht auf Vergessen I“ das allgemeine Persönlichkeitsrecht um das demokratieorientierte Ziel an, die Mitwirkung in Staat und Gesellschaft zu schützen. Einige Monate später konkretisiert es diese Dimension des Persönlichkeitsschutzes mit Nachdruck. Eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft könne nur erwartet werden, wenn für diejenigen, die sich engagierten und öffentlich einbrächten, ein hinreichender Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte gewährleistet sei. Dieser wirksame Schutz müsse insb. unter den Bedingungen der Verbreitung von Informationen durch soziale Netzwerke im Internet gewährleistet sein. Dies gelte über die Bedeutung für die jeweils Betroffenen hinaus „auch im öffentlichen Interesse, was das Gewicht dieser Rechte in der Abwägung verstärken“ könne.

4
Das BVerfG setzt diese Erweiterung der äußerungsrechtlichen Abwägungskriterien um den Schutz der Mitwirkung in Staat und Gesellschaft in seiner Künast-Entscheidung v. 21.12.2021 in aller Schärfe fort. Selbst Politikerinnen und Politiker, die bewusst in die Öffentlichkeit träten, seien nicht schutzlos. Herabsetzende Äußerungen, die sich von einem Meinungskampf in die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Fragen wegbewegten und bei denen die Herabwürdigung der betroffenen Person im Vordergrund stehe, seien nicht durch das Ziel der Machtkritik gerechtfertigt. Gerade unter den Bedingungen der Verbreitung von Informationen durch die sozialen Netzwerke im Internet liege es im öffentlichen Interesse, dass auch Politikerinnen und Politiker vor ins Persönliche gehenden Beschimpfungen geschützt würden. Sodann findet sich erneut ein prägender Hinweis des Gerichts: Die Bedeutung des Gewichts der Persönlichkeitsrechte in der Abwägung werde dadurch verstärkt, dass andernfalls keine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft erwartet werden könne.

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Der Funktionsschutz für die effektive Mitwirkung am gesellschaftlichen Werte- und Meinungsbildungsprozess als der Grundpfeiler für eine funktionierende freiheitlich-demokratische Grundordnung wird in der Rechtsprechung immer wieder hervorgehoben. Es stellt ein verfassungsrechtliches Schutzgut dar, den Teilnehmer am öffentlichen Prozess der gesellschaftlichen Werte- und Meinungsbildung nicht einzuschüchtern. Dieser Rechtsgedanke ist z.B. in § 15 Abs. 1 VersG enthalten. Versammlungen dürfen nicht in einer Art und Weise durchgeführt werden, dass Bürger in ihrem gesellschaftlichen Engagement eingeschüchtert werden.

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Der allgemeine Grundsatz, dass für ein demokratisches System die Möglichkeit der gleichberechtigten Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung und gesellschaftlichen Wertebildung unverzichtbar ist, ist mehr als ein abstrakter Programmsatz, sondern muss im Äußerungsrecht auf den Einzelfall heruntergebrochen und umgesetzt werden. Dies hat die jüngere Rechtsprechung des BVerfG, zuletzt in der Künast-Entscheidung, verdeutlicht.

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Ein funktionierendes demokratisches Gemeinwesen wird nicht nur durch die Bereitschaft zur politischen Mitwirkung geprägt. Vielmehr ist die freiheitlich-demokratische Grundordnung davon abhängig, dass sich Menschen auch im außerpolitischen Bereich, z.B. im wirtschaftlichen, wissenschaftlichen oder sportlichen Bereich, engagieren und nach außen treten. Die prosperierende Fortentwicklung einer demokratischen Gesellschaft erfordert es, dass Menschen sich...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 17.08.2023 16:58
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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