Aktuell in der AfP

Anmerkungen zum Rücksichtnahmegebot als ungeschriebenem Grundsatz des Medienrechts (Ukrow, AfP 2023, 398)

Das Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme prägt als Grundton eine Vielzahl von Regulierungssystemen – einschließlich der Medienregu-lierung. Digitalisierung und Globalisierung scheinen Entgrenzungen wie Enthemmungen des demokratischen Diskurses zu befördern, die mit diesem Gebot kollidieren. Aber auch eine gewisse Gleichgültigkeit im Mehrebenensystem der Organisation von Gemeinwohlbelangen belas-tet die gebotene Rücksichtnahme.

I. Einleitung
II. Rücksichtnahmepflichten in dritten Rechtsgebieten – das Rücksichtnahmegebot als allgemeiner Rechtsgrundsatz im Werden

1. Individualrechtsbezogene Rücksichtnahmepflichten
a) Rücksichtnahmegebot im Straßenverkehrsrecht
b) Rücksichtnahmegebot im Baurecht
2. Kompetenzbezogene Rücksichtnahmepflichten
a) Rücksichtnahmepflichten im Verhältnis der EU zu den Mitgliedstaaten
aa) Gebot der Loyalität der Mitgliedstaaten
bb) Gebot der Achtung der nationalen Identität seitens der EU
cc) Solidaritätsprinzip
b) Prinzip der Bundestreue als Ausdruck der Rücksichtnahmepflichten im föderalen Verbund der grundgesetzlichen Ordnung
3. Zwischenbilanz
III. Semantische Anknüpfungspunkte für ein medienrechtliches Rücksichtnahmegebot als Rechtsgrundsatz
IV. Dimensionen des medienrechtlichen Rücksichtnahmegebots

1. Einführung
2. Entwicklungsoffenheit und Grundierung in Staatsstrukturprinzipien
3. Bedeutung des Rücksichtnahmegebots – einige Beispiele
a) Rücksichtnahmegebot und Rundfunkfinanzverfassung
b) Rücksichtnahmegebot und Herstellung des digitalen Binnenmarkts


I. Einleitung
1
Wechselseitige Rücksichtnahme ist zwar kein dem Recht als ausdrücklich verankerter Rechtsbegriff besonders vertrauter Terminus. Das Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme prägt allerdings als Grundton eine Vielzahl von Regulierungssystemen. Hierzu zählt, wie im Folgenden aufgezeigt wird, auch das System der Medienregulierung. Auch hier steht dieses Gebot vor neuen Herausforderungen durch Digitalisierung und Globalisierung, die nicht zuletzt auch Entgrenzungen wie Enthemmungen des demokratischen Diskurses zu befördern scheinen. Aber auch eine gewisse Gleichgültigkeit im Mehrebenensystem der Organisation von Gemeinwohlbelangen gegenüber Akteuren vermeintlich nachgeordneter Ebenen belastet die gebotene Rücksichtnahme – sei es im Verhältnis von der EU zu ihren Mitgliedstaaten, sei es im Verhältnis des Bundes zu den Ländern. Insoweit ist dieser Beitrag durch ein zweifaches „wehret (mehr) als den Anfängen“ inspiriert – sowohl im Blick auf föderale als auch im Blick auf grundwertebezogene Fundamente unserer Verfassungsordnung.

II. Rücksichtnahmepflichten in dritten Rechtsgebieten – das Rücksichtnahmegebot als allgemeiner Rechtsgrundsatz im Werden

1. Individualrechtsbezogene Rücksichtnahmepflichten

a) Rücksichtnahmegebot im Straßenverkehrsrecht

2
Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl wurde Mitte der 1990er Jahre in einer RTL-Sendung gefragt, wie er den Ausbau der Datenautobahn fördern wolle. In seiner Antwort sprach Kohl vom schlechten Zustand von Deutschlands Straßen. So viel Satiregehalt die Äußerung damals auch gehabt haben mochte, im Blick auf das Rücksichtnahmegebot im modernen Medienrecht ist der Hinweis auf Verhältnisse im Straßenverkehr als Orientierungspunkt nicht abwegig, wenn es um Rechtsgebiete geht, die dieses Gebot kennen. Denn zu den „Grundregeln“ des deutschen Straßenverkehrsrechts gehört nach § 1 Abs. 1 StVO, dass „(d)ie Teilnahme am Straßenverkehr ... ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht fordert.“

3
Auch wenn diese Rücksichtnahmepflicht in Judikatur wie Schrifttum zumindest bislang kaum eigenständige verhaltenssteuernde Relevanz gewonnen hat, ist die Pflicht dennoch kein faktisches juristisches Nullum. § 1 StVO enthält als abstrakt gefasste Generalnorm zumindest Grundsätze, die teils als Auslegungsstütze, teils als Auffangnorm herangezogen werden können. (Auch) die Grundregel des § 1 Abs. 1 StVO ergänzt die straßenverkehrsrechtlichen Spezialregeln Diese Auslegungs- und Auffangfunktion prägt, wie im Folgenden aufgezeigt wird, auch das medienrechtliche Rücksichtnahmegebot.

b) Rücksichtnahmegebot im Baurecht
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Das Gebot der Rücksichtnahme zählt auch zum Kern des öffentlichen Baunachbarrechts. Grundlegend hierfür war die Entscheidung des BVerwG im sog. Schweinemäster-Fall, in der erstmalig dem objektivrechtlich ausgerichteten Gebot der Rücksichtnahme eine unmittelbare drittschützende Wirkung im Sinne eines Nachbarschutzes zuerkannt wurde, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Auch das baunachbarrechtliche Rücksichtnahmegebot hat v.a. eine spezielle baurechtliche Vorgaben stützende Funktion: Es dient dazu, im Einzelfall die allgemeinen, gesetzlich normierten Anforderungen an Vorhaben (namentlich § 31 Abs. 2, § 34 Abs. 1 und § 35 Abs. 3 BauGB sowie § 15 BauNVO) unter Einbeziehung der nachbarlichen Belange und Interessen zu konkretisieren. Das baurechtliche Rücksichtnahmegebot vermittelt einem Nachbarn nicht von Einzelvorschriften losgelöst ein eigenes und selbstständiges Abwehrrecht.

2. Kompetenzbezogene Rücksichtnahmepflichten

a) Rücksichtnahmepflichten im Verhältnis der EU zu den Mitgliedstaaten

aa) Gebot der Loyalität der Mitgliedstaaten

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Nach Art. 4 Abs. 3 Satz 1 EUV achten und unterstützen sich die EU und die Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus EUV und AEUV ergeben. Aus diesem Loyalitätsgebot resultiert als staatsorganisationsrechtliches Rücksichtnahmegebot eine Pflicht der Mitgliedstaaten, nicht gegen Maßnahmen der EU zu verstoßen und deren effet utile, d.h. deren praktische Wirksamkeit im innerstaatlichen Recht, nicht zu beeinträchtigen. Diese Pflicht bezieht sich grundsätzlich auf...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 20.10.2023 09:48
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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