EGMR, Urt. v. 1.4.2021 - 42634/18 (Sedletska gegen Ukraine)

Ukraine: Staatlicher Zugriff auf Mobilfunk-Kommunikationsdaten einer Journalistin - Schutz journalistischer Quellen

Der gerichtlich genehmigte Zugriff auf die Mobilfunk-Kommunikationsdaten einer Journalistin, durch den möglicherweise ihre Quellen preisgegeben werden konnten, war nicht "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig". Der Eingriff in die Meinungsfreiheit war grob unverhältnismäßig und nicht durch ein "zwingendes Erfordernis des öffentlichen Interesses" gerechtfertigt.

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin ist Journalistin und Chefredakteurin einer Fernsehsendung, die sich mit Korruption u.a. bei hochrangigen Staatsanwälten und Politikern in der Ukraine befasst. Im August 2018 gestattete ein Bezirksgericht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen einen Beamten dem Ermittler den Zugriff auf Mobiltelefondaten der Beschwerdeführerin vom Juli 2016 bis zum November 2017. In der Berufung im September 2018 wurde die Entscheidung aufgehoben, dem Ermittler aber dennoch ein vorübergehender Zugriff auf die Daten zu Datum, Uhrzeit und Standort der Beschwerdeführerin in der Nähe von sechs angegebenen Orten in Kiew im genannten Zeitraum gestattet. Bereits im September 2018 hatte der EGMR auf Antrag der Beschwerdeführerin eine einstweilige Anordnung erlassen und die Regierung angewiesen sicherzustellen, dass die Behörden sich des Zugriffs auf die streitigen Daten enthalten. Die Beschwerdeführerin beschwerte sich u.a. nach Art. 10 EMRK über die Versuche der ukrainischen Behörden, durch den Zugriff auf ihre Mobiltelefonkommunikation in ihr Recht auf Information und Ideen einzugreifen, und betonte, dass diese Daten den Behörden ermöglichen könnten, ihre journalistischen Quellen zu identifizieren und damit ihre journalistische Tätigkeit zu gefährden. Zudem seien die Ermächtigungen zum Zugriff auf die Daten unverhältnismäßig.

Die Gründe:
Der EGMR betonte eingangs unter Verweis auf seine ständige Rechtsprechung (etwa Urt. v. 27.3.1996, Goodwin gegen Vereinigtes Königreich, 17488/90, dort Ziff. 39; Urt. v. 14.9.2010, Sanoma Uitgevers B.V. gegen Niederlande, 38224/03, dort Ziff. 50) , dass der Schutz journalistischer Quellen einer der Eckpfeiler der Pressefreiheit sei. Die lebenswichtige Überwachungsfunktion der Presse könne ohne einen solchen Schutz untergraben werden, und die Fähigkeit der Presse, genaue und zuverlässige Informationen zu liefern, beeinträchtigt werden.

Dass ein Eingriff in Art. 10 EMRK vorlag, war zwischen den Beteiligten unbestritten. Der EGMR war davon überzeugt, dass legitime Ziele nach Art. 10 Abs. 2 EMRK verfolgt würden, insbesondere die Verhütung von Straftaten und den Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer. Der Eingriff sei auch gesetzlich vorgesehen gewesen, obgleich der EGMR mit Blick auf die konkreten Umstände des rein zufälligen Bekanntwerdens bei der Beschwerdeführerin seine Sorge darüber ausdrückte, dass sich das Vorgehen des ukrainischen Gerichts an der Schwelle zur Willkür bewegt habe.
Erneut verwies der EGMR darauf, dass in Anbetracht der Bedeutung des Schutzes journalistischer Quellen Beschränkungen der Vertraulichkeit dieser Quellen einer äußerst sorgfältigen Prüfung bedürften. Das Interesse der demokratischen Gesellschaft an der Sicherung einer freien Presse habe gegenüber anderen Interessen Vorrang; das Recht von Journalisten, ihre Quellen nicht offenzulegen, sei kein bloßes Privileg, das je nach Recht- oder Unrechtmäßigkeit der Quellen gewährt oder entzogen wird, sondern Teil des Rechts auf Information, das mit äußerster Vorsicht zu behandeln sei. Die Beschlagnahme von Kommunikationsdaten stelle regelmäßig eine besonders drastische Form des Eingriffs dar.

Vorliegend rügte der EGMR v.a. den zeitlichen wie räumlichen Umfang der persönliche wie berufliche Kontakte umfassenden Datenerhebung, der Rückschlüsse auch auf für mit dem zugrundeliegenden Strafverfahren in keinem Zusammenhang stehende Quellen zulasse. Missbräuchliche Verwendung der danach zu erhebenden bzw. tatsächlich erhobenen Daten könne nicht ausgeschlossenen werden. Der Schutz des Art. 10 EMRK sei vorliegend auch nicht dadurch aufgehoben, dass zu den beruflichen Kontakten der Beschwerdeführerin auch der Beschuldigte im zugrundeliegenden Strafverfahren zählte. Auch seien die Gründe der strafrechtlichen Ermittlung nicht überzeugend und die Relevanz der gewonnen Daten für das Strafverfahren nicht sicher gewesen. Zudem scheine nicht geprüft worden zu sein, ob es andere, gezieltere Mittel gegeben habe, um an die erforderlichen Informationen zu gelangen.

Demnach hielt der EGMR einstimmig fest, dass eine Verletzung von Art. 10 EMRK vorläge.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.05.2021 16:50
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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