EGMR [GK], Urt. v. 25.5.2021 - 58170/13 u.a.

Große Kammer des EGMR macht Vorgaben zur anlasslosen Internet-Kommunikationsüberwachung

Mit zwei Grundsatzurteilen hat die Große Kammer des EGMR am 25.5.2021 strenge Vorgaben zur anlasslosen Internet-Kommunikationsüberwachung durch staatliche Geheimdienste aufgestellt. (EGMR [GK], Urt. v. 25.5.2021 - 58170/13, 62322/14, 24960/15 (Big Brother Watch u.a. gegen Vereinigtes Königreich), Urt. v. 25.5.2021 - 35252/08 (Centrum för rättvisa gegen Schweden))

Die Sachverhalte:
Einerseits geht es um einen Fall, der seinen Ausgangspunkt im Vereinigten Königreich (UK) hatte: Bei den dortigen Beschwerdeführern handelte es sich um Menschenrechtsorganisationen und Einzelpersonen, die als Aktivisten für Fragen der bürgerlichen Freiheiten und Rechte von Journalisten tätig waren. Nach der Aufdeckung geheimdienstlicher Überwachungstätigkeiten und damit verbundenen Datenaustauschs zwischen den USA und dem UK durch Edward Snowden legten sie Beschwerde zum EGMR ein. Sie befürchteten aufgrund der Art ihrer Tätigkeit (1.) das massenhafte Abhören ihrer elektronischen Kommunikation, (2.) den Zugriff britischer Behörden auf Abhörergebnisse ausländischer Regierungen und Geheimdienste zur Umgehung innerbritischer Vorgaben sowie (3.) die Beschaffung von Kommunikationsdaten von Kommunikationsdienstleistern. Die gesetzlichen Regelungen zur Internet-Kommunikationsüberwachung im UK sind zwischenzeitlich abgeändert worden.

Dem zweiten Urteil liegt eine Beschwerde einer schwedischen gemeinnützigen Stiftung zugrunde. Sie machte insbesondere geltend, es bestehe die Gefahr, dass ihre oftmals sensible Kommunikation abgefangen und nachrichtendienstlich untersucht worden sei oder werden würde.

Bezüglich der britischen Beschwerde hatte der EGMR 2018 einen Verstoß gegen Art. 8 und 10 EMRK festgestellt, der sich allerdings nicht auf das System des internationalen Datenaustauschs erstreckte; im schwedischen Fall war ein Verstoß gegen Art. 8 EMRK abgelehnt worden.

Die Gründe:
Der EGMR hielt fest, dass der Betrieb eines Massenabhörsystems nicht an und für sich gegen die EMRK verstoße, ein solches System jedoch durchgängigen („end-to-end“) Schutzmaßnahmen zu unterliegen habe. Demnach müsse auf innerstaatlicher Ebene in jeder Phase des Prozesses eine Bewertung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der ergriffenen Maßnahmen vorgenommen werden. Dies umfasse eine unabhängige vorherige Genehmigung sowie eine unabhängige nachträgliche Überprüfung. Die Genehmigung durch einen Staatssekretär, unbestimmte Suchkategorien sowie die Bezugnahme auf nicht näher definierte personenbezogene Suchbegriffe – wie im UK – seien damit nicht vereinbar.
Zudem sei der ausreichende Schutz für vertrauliches journalistisches Material sicherzustellen, was im UK nicht der Fall gewesen sei. Auch habe die Regelung zur Beschaffung von Kommunikationsdaten von Kommunikationsdienstleistern nicht im Einklang mit den britischen Gesetzen gestanden. Die Regelung, mit der das UK nachrichtendienstliche Informationen von ausländischen Regierungen und/oder Nachrichtendiensten anfordern konnte, habe hingegen über ausreichende Schutzvorkehrungen verfügt, um vor Missbrauch zu schützen und um sicherzustellen, dass die britischen Behörden solche Anfragen nicht als Mittel zur Umgehung ihrer Pflichten nach innerstaatlichem Recht und der EMRK verwendet hatten.

Hinsichtlich des schwedischen Massenabhörsystems erkannte der EGMR drei Mängel: das Fehlen einer klaren Regelung zur Vernichtung von abgefangenem Material, das keine personenbezogenen Daten enthielt; das Fehlen einer Vorschrift, wonach bei der Entscheidung über die Übermittlung von nachrichtendienstlichem Material an ausländische Partner die Interessen des Einzelnen an der Privatsphäre zu berücksichtigen sind; schließlich fehle es an einer wirksamen nachträglichen Überprüfung der Überwachung. Das schwedische System entspreche somit nicht dem Erfordernis der „end-to-end“-Garantien, es überschreite den eingeräumten einschlägigen Ermessensspielraum und schütze insgesamt nicht vor der Gefahr von Willkür und Missbrauch.

Im Ergebnis stellte die Große Kammer bzgl. der britischen Beschwerde einstimmig einen Verstoß gegen Art. 8 und 10 EMRK durch die Maßnahmen (1.) und (3.) fest. Im Hinblick auf die Maßnahme (2.) wurde ein solcher Verstoß mit 12 zu fünf Stimmen hingegen abgelehnt. Bzgl. der schwedischen Beschwerde wurde mit 15 zu zwei Stimmen ein Verstoß gegen Art. 8 EMRK bejaht.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 16.06.2021 16:37
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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