EGMR, Urt. v. 29.6.2021 - 22051/05

Russland: Kollektivstrafen wegen Teilnahme an gewalttätigem Protest

Eine kollektiv verhängte Strafe, welche die individuelle Rolle einzelner Teilnehmer eines gewalttätigen Protests nicht berücksichtigt, begründet einen Verstoß gegen Art. 10 EMRK. Dies gilt insbesondere, wenn das Gericht in seinem Urteil Abneigung gegenüber den vertretenen politischen Positionen erkennen lässt. (Yezhov u.a. gegen Russland)

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer sind Mitglieder der russischen oppositionellen Nationalbolschewistischen Partei (NBP), die sich an einem Protest gegen den Erlass eines Gesetzes beteiligt hatten. In Rettungsdienstuniformen gekleidet, drangen sie gewaltsam in das Gebäude des für den Gesetzentwurf zuständigen Ministeriums ein. Dort besetzten sie Büros und forderten die Mitarbeiter auf, das Gebäude zu verlassen. Einzelne der Beschwerdeführer nagelten die Türen von innen mit Nagelpistolen zu und blockierten sie mit Büromöbeln. Es wurden von einigen von ihnen NBP-Fahnen geschwenkt und Flugblätter aus den Fenstern geworfen sowie Parolen skandiert, in denen der Rücktritt des zuständigen Ministers gefordert wurde. Einzelne Beschwerdeführer zündeten daneben Feuerwerkskörper und warfen ein Porträt des russischen Präsidenten aus dem Fenster. Die Beschwerdeführer hielten sich etwa eine Stunde lang in dem Gebäude auf, bevor die Polizei die Türen aufbrach und sie festnahm. Sie wurden in Untersuchungshaft genommen und von einem Bezirksgericht wegen grober Störung der öffentlichen Ordnung und vorsätzlicher Zerstörung und Herabwürdigung fremden Eigentums an öffentlichen Orten zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt sowie dazu, dem Ministerium den entstandenen Schaden zu ersetzen. In der Berufung wurden die Verurteilungen bei reduzierten Strafen aufrechterhalten.

Die Gründe:
Der EGMR hielt zunächst fest, dass die Festnahme, Inhaftierung und Verurteilung der Beschwerdeführer einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung dargestellt habe, der gesetzlich vorgeschrieben gewesen sei und die legitimen Ziele verfolgt habe, Unruhe zu verhindern und die Rechte anderer zu schützen.

Allerdings sei der Eingriff nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen: Der Protest habe ein Thema von öffentlichem Interesse betroffen; die Beschwerdeführer hätten Mitbürger und Beamte auf ihre Missbilligung eines neuen Gesetzes aufmerksam machen wollen. Dies habe sie aber nicht zu ihren Aktivitäten im Ministeriumsgebäude berechtigt, weshalb die Polizei berechtigt gewesen sei, die Beschwerdeführer zu verhaften und aus den Räumlichkeiten des Ministeriums zu entfernen. Dies sei auch in verhältnismäßiger Weise geschehen.

Allerdings sei das Verfahren vor dem Bezirksgericht zu beanstanden. Dieses hatte die Aktivitäten als gesetzlich verboten verurteilt, weshalb die Verfolgung und Verurteilung der Beschwerdeführer gerechtfertigt sei, um die Verantwortung für die Begehung solcher Taten zuzuweisen und von ähnlichen Straftaten abzuschrecken. Das Gericht habe jedoch nicht versucht, die individuelle Rolle jedes Beschwerdeführers während des Protests, das Ausmaß seiner Beteiligung und seine individuellen Handlungen festzustellen. Damit habe es jedem von ihnen die Möglichkeit genommen, die konkreten Gründe für die Einschränkung seiner Meinungsfreiheit zu bestreiten. Das Gericht habe den Beschwerdeführern durch das Unterlassen einer individuellen Sachverhaltswürdigung eine wichtige prozessuale Absicherung gegen willkürliche Eingriffe in die durch Art. 10 EMRK geschützten Rechte vorenthalten. Zudem habe das Gericht auch den Inhalt und die Form der übermittelten politischen Botschaft verurteilt und die Beschwerdeführer auch im Blick darauf bestraft. Damit habe es ein Maß an Abneigung gegenüber deren politischen Ansichten an den Tag gelegt, das nur schwer mit der in Art. 10 EMRK verankerten Pflicht der nationalen Behörden zu vereinbaren sei, gegenüber legitimen politischen Ansichten neutral zu bleiben und andere nicht davon abzuhalten, die Politik der Regierung insgesamt zu kritisieren. Mit seiner Einschätzung der regierungsfeindlichen Rhetorik der Beschwerdeführer als inakzeptabel oder sogar kriminell habe das Gericht den engen Ermessensspielraum überschritten, der ihm nach Art. 10 EMRK in Bezug auf politische Äußerungen, Angelegenheiten von öffentlichem Interesse und Kritik an der Regierung, die alle ein hohes Maß an Schutz vor staatlichen Eingriffen genießen, zustehe. Auch lasse das verhängte Strafmaß auf eine generell repressive Haltung der nationalen Behörden gegenüber den Mitgliedern dieser politischen Bewegung schließen.

Demnach hielt der EGMR mit sechs Stimmen zu einer und der abweichenden Meinung von Richter Dedov fest, dass eine Verletzung von Art. 10 EMRK vorliege.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.07.2021 11:13
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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