EGMR, Urt. v. 27.7.2021 - 29856/13

Portugal: Schadensersatz wegen Falschberichterstattung der Höhe nach unverhältnismäßig

Falschberichterstattung in den Medien kann Schadensersatzansprüche wegen Rufschädigung nach sich ziehen. Diese dürfen aber nicht unverhältnismäßig hoch sein, um im Einklang mit Art. 10 EMRK zu stehen. (SIC - Sociedade Independente de Comunicação gegen Portugal)

Der Sachverhalt:
Die beschwerdeführende Gesellschaft ist ein portugiesisches Medienunternehmen (SIC), das reichweitenstarke Fernsehsender betreibt. Diese strahlten am 6. und 7. Dezember 2003 Berichte über einen Ring von Kinderschändern aus, in denen sie zu Unrecht auf die Beteiligung eines bekannten portugiesischen Politikers (R.) anspielten. Die Beiträge stützten sich auf einen Investigativbericht, der am 6. Dezember 2003 in Expresso, einer führenden portugiesischen Wochenzeitung, veröffentlicht und von SIC gemeinsam mit Expresso aus verschiedenen Quellen zusammengestellt worden war. Der Inhalt der Beiträge wurde mehrere Tage lang in verschiedenen portugiesischen Medien verbreitet. Am 8. Dezember 2003 trat R. von seinen politischen Ämtern zurück. In einer daraufhin von SIC am Morgen des 9. Januar 2004 ausgestrahlten Nachrichtensendung wurde fälschlicherweise berichtet, dass R. verhaftet und von der Polizei verhört worden sei. Wenige Stunden später berichtigte der Sender diese Angaben. Im Anschluss an ein von R. eingeleitetes zivilrechtliches Schadensersatzverfahren wurde SIC wegen Verbreitung unrichtiger Informationen verurteilt und vom portugiesischen Obersten Gerichtshof letztinstanzlich zur Zahlung von 50.000 Euro für den immateriellen und von 65.758 Euro für den materiellen Schaden verurteilt. Unter Hinzurechnung der gesetzlichen Zinsen belief sich der Betrag auf 145.988,28 Euro.

Die Gründe:
Der EGMR befand, dass das Urteil des Obersten Gerichtshofs, mit dem SIC zur Zahlung von Schadensersatz an R. wegen Verletzung seines Persönlichkeitsrechts verurteilt wurde, einen Eingriff in die Ausübung der Meinungsfreiheit der SIC dargestellt habe, der gesetzlich vorgesehen gewesen sei und das legitime Ziel verfolgt habe, das Ansehen oder die Rechte des R. zu schützen.
Die streitgegenständlichen Informationen waren Gegenstand mehrerer Eröffnungsberichte in den Abend- und Mittagsnachrichten zur Hauptsendezeit über die laufenden Ermittlungen gegen ein Netzwerk, das in den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen auf den Azoren verwickelt war. Für den EGMR bestand kein Zweifel, dass sie Informationen von öffentlichem Interesse enthielten. Zudem sei R. sowohl in seiner Region auf den Azoren als auch im ganzen Land als öffentliche Person anzusehen, die zum Zeitpunkt der Berichterstattung ein hochrangiges politisches Amt innegehabt habe.

Nur Quelle des Berichts vom 9. Januar 2004 seien Reporter der SIC gewesen, während die Meldungen vom Dezember 2003 aus verschiedenen Quellen zusammengetragen worden seien. Allerdings sei in Anbetracht ihres Inhalts und des besonderen Stigmas, das mit Sexualstraftaten an Kindern verbunden ist, der Vorwurf der Beteiligung an solchen Straftaten geeignet, das Recht auf Achtung des Privatlebens zu beeinträchtigen. Zwar sei R. in den Berichten vom Dezember 2003 nicht direkt genannt worden, aber dennoch leicht zu identifizieren gewesen. Trotz der Reputation von SIC und Expresso als zuverlässigen Nachrichtenmedien hätten ihre Berichte dem R. somit einen Schaden zufügen können. Im Hinblick auf den Bericht vom Januar 2004 habe SIC nicht verantwortungsbewusst gehandelt, zumal sie von der weiten Verbreitung der Nachricht über Medien im In- und Ausland gewusst habe. Daher habe es zwingende Gründe gegeben, gegen SIC wegen der Falschinformation eine Sanktion zu verhängen.

SIC habe allerdings den Schaden für den Ruf des R. sowohl vom Umfang als auch von der Zeit her begrenzt, indem sie ihren Fehler wenige Stunden nach Bekanntwerden der Nachricht korrigiert habe. Die innerstaatlichen Gerichte seien zwar der Ansicht gewesen, dass auf verschiedenen Online-Plattformen immer noch Hinweise auf die mögliche Beteiligung des R. zu finden waren, doch habe dieser kurz nach der Meldung seine politische Tätigkeit bis zum heutigen Tag wieder aufgenommen. Somit seien Ansehen und Ehre des R. zwar verletzt worden, jedoch nicht so schwerwiegend, dass dies eine Entschädigung in der verhängten Höhe rechtfertigen würde. Sie sei im Vergleich zu früheren portugiesischen Fällen vor dem EGMR hoch gewesen und zudem geeignet, die Presse von der Teilnahme an Debatten über Fragen von berechtigtem öffentlichen Interesse abzuhalten. Sie habe eine abschreckende Wirkung auf die Meinungs- und Pressefreiheit und sei daher unter den Umständen des vorliegenden Falles als übertrieben anzusehen. Der Eingriff sei somit unverhältnismäßig und nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig im Sinne des Art. 10 EMRK gewesen.

Der EGMR hielt einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 18.08.2021 16:54
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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