Aktuell in der AfP

Presselogistik als originärer oder geduldeter Teil der BG ETEM (Weberling / Kowalczyk, AfP 2021, 293)

Zustellunternehmen der Zeitungen wurden im September 2020 durch Veranlagungsbescheide der BG ETEM überrascht, die sie einer neuen Gefahrtarifstelle 2071 statt der bisherigen Gefahrtarifstelle 1401 zuordneten. Folge der neuen Zuordnung sind drastische Beitragserhöhungen für die betroffenen Zustellunternehmen. Nachstehend wird erörtert, ob die Zuordnung der Presselogistikunternehmen zur neuen Gefahrtarifstelle 2071 rechtmäßig ist.


I. Ausgangssituation

II. Grundlagen

1. Rechtsnatur des Gefahrtarifs

2. Regelungsspielraum der BG und gerichtliche  Überprüfungsmöglichkeiten

3. Gewerbezweigtarif

4. Zusammenfassung von Unternehmensarten  und Gewerbezweigen in einer Gefahrtarifstelle –  Überblick über die Rechtsprechung

5. Folgen der Nichtigkeit eines Gefahrtarifs

6. Gefahrklassen für fremdartige Nebenunternehmen

III. Zuständigkeit der BG ETEM für Zeitungszustellgesellschaften

IV. Ergebnis


I. Ausgangssituation

Im September 2020 erhielten Zustellunternehmen der Zeitungen Veranlagungsbescheide der Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse (BG ETEM), die sie einer neuen Gefahrtarifstelle 2071 (Zustellung fremder Druckerzeugnisse) statt der bisherigen Gefahrtarifstelle 1401 (Herstellung von Druckerzeugnissen aller Art einschließlich deren Verteilung) zuordneten. Damit wurde faktisch zwischen Zustellern, die direkt bei einer Druckerei beschäftigt sind (Gefahrtarifstelle 1401), und Zustellern, die in reinen Zustellbetrieben arbeiten (Gefahrtarifstelle 2071), differenziert mit der Folge drastischer Beitragserhöhungen für die betroffenen Zustellunternehmen.

II. Grundlagen

1. Rechtsnatur des Gefahrtarifs


Der Unfallversicherungsträger beschließt durch das Selbstverwaltungsorgan den Gefahrtarif als untergesetzliche Rechtsnorm, § 157 Abs. 1 SGB VII. Zuständig für den Erlass ist die Vertreterversammlung, § 33 Abs. 1 SGB IV. Der Gefahrtarif bedarf nach § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB IV i.V.m. § 158 Abs. 1 SGB VII der Genehmigung des Bundesversicherungsamts als Aufsichtsbehörde. Er hat nach § 157 Abs. 5 SGB VII eine Geltungsdauer von höchstens sechs Kalenderjahren und ist gem. § 157 Abs. 2 Satz 1 SGB VII nach Tarifstellen (Gefahrtarifstellen) zu gliedern. In ihnen werden Gefahrengemeinschaften nach dem unterschiedlichen Grad der Gefährdung gebildet. In der Regel werden die Tarifstellen nach Unternehmensarten mit jeweils unterschiedlichem Gefährdungsgrad geordnet (Gewerbezweigtarif). Möglich ist auch ein Tätigkeitstarif. Nach § 159 Abs. 1 Satz 1 SGB VII wird jedes Unternehmen von der Berufsgenossenschaft (BG) mit einem Veranlagungsbescheid einer Gefahrtarifstelle und der dazugehörenden Gefahrklasse für die jeweilige Tarifzeit zugeordnet.

Der Beitrag wird gem. § 168 Abs. 1 SGB VII in einem gesonderten Beitragsbescheid jährlich festgesetzt. Der Beitrag errechnet sich nach § 167 SGB VII für das Unternehmen durch Multiplikation der im Unternehmen angefallenen Arbeitsentgelte mit dem (jährlich festzustellenden) Beitragsfuß und der Gefahrklasse.

Der Gefahrtarif selbst ist autonomes Recht der BG und hat damit die Qualität einer Satzung. Er ist keine Einzelfallregelung, also kein Verwaltungsakt und nicht unmittelbar mit der Klage angreifbar. Er wird von den Gerichten aber inzident bei einer Klage gegen einen Veranlagungsbescheid überprüft. Bei der Aufstellung des Gefahrtarifes mit der Bildung der Tarifstellen hat die Vertreterversammlung einen weiten inhaltlichen Regelungsspielraum. Bei der Anwendung des Gefahrtarifs dagegen hat die BG, so das BSG in ständiger Rechtsprechung, keinen Ermessens- oder Beurteilungsspielraum: „Bei der Anwendung des Gefahrtarifs hat die Beklagte, wie auch bei der Auslegung anderer Rechtsnormen, keinen Ermessens- oder Beurteilungsspielraum. Dem steht nicht entgegen, dass die Beklagte nach wohl herrschender Auffassung, zu der hier der Senat nicht abschließend Stellung zu nehmen braucht, befugt ist, in ihrem Gefahrtarif von einer Unterscheidung zwischen dem kaufmännischen und verwaltenden Teil des Unternehmens und dem gewerblichen Teil des Unternehmens gänzlich abzusehen“.

2. Regelungsspielraum der BG und gerichtliche Überprüfungsmöglichkeiten

Der weite inhaltliche Regelungsspielraum des Selbstverwaltungsorgans der BG bei der Aufstellung des Gefahrtarifs ist durch die in § 157 Abs. 2 SGB VII (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 16.09.2021 15:27
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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