EGMR, Urt. v. 31.8.2021 - 23314/19 (Üçdağ gegen Türkei)

Türkei: Verurteilung eines Imams aufgrund seiner Facebook-Beiträge verstößt gegen Art. 10 EMRK

Unterlassen es staatliche Stellen darzulegen, aus welchen konkreten Gründen Beiträge in einem sozialen Netzwerk unter den jeweiligen Umständen als Aufforderung zur Gewaltanwendung, zum bewaffneten Widerstand oder zum Aufstand oder als Hassrede angesehen werden können, stellt eine auf diesen Beiträgen beruhende strafrechtliche Verurteilung wegen Verbreitung terroristischer Propaganda einen Verstoß gegen Art. 10 EMRK dar.

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer war zum streitgegenständlichen Zeitpunkt verbeamteter Imam in einer örtlichen Moschee. Er war wegen behaupteter Verbreitung von Propaganda für eine terroristische Vereinigung aufgrund von zwei auf seinem Facebook-Account veröffentlichten Beiträgen zu einer Haftstrafe von knapp 19 Monaten verurteilt worden. Die angefochtenen Beiträge enthielten Texte, die angeblich Propaganda für die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans, eine illegale bewaffnete Organisation) waren und die Anwendung der Methoden dieser Organisation wie Zwang, Gewalt und Drohungen dulden, loben und ermutigen würden. Begleitend zu den Texten gab es zwei Fotos (von Personen in Uniformen ähnlich jenen von PKK-Mitgliedern und von einer Menschenmenge, die auf einer öffentlichen Straße vor einem Feuer demonstriert), die ursprünglich von anderen Facebook-Nutzern geteilt worden waren.

Die Gründe:
Nach Ansicht des EGMR hätten es die innerstaatlichen Organe mit der Verurteilung des Beschwerdeführers versäumt, eine angemessene Abwägung zwischen seinem Recht auf freie Meinungsäußerung und den verfolgten legitimen Zielen – nämlich Schutz der nationalen Sicherheit und der territorialen Unversehrtheit sowie Aufrechterhaltung der Ordnung und Verhütung von Straftaten – im Einklang mit den in der Rechtsprechung des EGMR festgelegten Kriterien vorzunehmen.
So hätten die innerstaatlichen Gerichte lediglich dargelegt, dass die angegriffenen Inhalte dahingehend auszulegen seien, dass sie die von der PKK angewandten Methoden der Nötigung, Gewalt oder Bedrohung billigen, loben und fördern würden, dass die fraglichen Inhalte geeignet seien, zu Gewalt aufzurufen und dass der Beschwerdeführer damit den Straftatbestand der Verbreitung von Propaganda zugunsten einer terroristischen Vereinigung erfüllt habe.

Dem Gerichtshof genügte diese Argumentation nicht. Die innerstaatlichen Gerichte hätten nämlich nicht hinreichend dargelegt, aus welchen konkreten Gründen die angegriffenen Inhalte so auszulegen seien, wie sie es in ihren Urteilen getan hatten. Insbesondere seien nicht alle in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 10 EMRK aufgestellten Grundsätze in Bezug auf mündliche und schriftliche Äußerungen, die als Schüren oder Rechtfertigung von Gewalt, Hass oder Intoleranz gelten, berücksichtigt worden. So sei nicht dargelegt worden, ob die Verbreitung der fraglichen Beiträge in Anbetracht ihres Inhalts, ihres Kontextes und ihrer Eignung, unter Berücksichtigung ihrer potenziellen Auswirkungen in den sozialen Netzwerken unter den Umständen des Falles zu schädlichen Folgen zu führen, als Aufforderung zur Gewaltanwendung, zum bewaffneten Widerstand oder zum Aufstand oder als Hassrede hätte angesehen werden können.

Somit habe die Regierung nicht nachgewiesen, dass die Gründe, auf die sich die inländischen Behörden zur Rechtfertigung der angefochtenen Maßnahme berufen hatten, relevant und ausreichend und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen seien.

Der EGMR hielt einstimmig fest, dass eine Verletzung von Art. 10 EMRK vorgelegen habe.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 20.09.2021 11:32
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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