EGMR, Urt. v. 30.11.2021 - 44261/19

Meinungsfreiheit - Vereinigtes Königreich: Verhaftung und strafrechtliche Verfolgung einer Journalistin wegen behaupteter Belästigung durch einen Artikel und Tweets

Die Meinungsfreiheit einschränkende Maßnahmen wegen behaupteter Belästigung durch einen veröffentlichten Artikel und öffentliche Kurznachrichten dürfen nicht ausschließlich oder hauptsächlich auf dem subjektiven Standpunkt des vermeintlich Geschädigten beruhen. (Pal gegen Vereinigtes Königreich)

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin ist Journalistin. Sie führte im Jahr 2011 per E-Mail einen Streit mit AB, seinerseits Journalist und Rechtsanwalt. AB fühlte sich von der Beschwerdeführerin belästigt, der nach einer entsprechenden Anzeige bei der Polizei ein sog. „Prevention of Harassment-Letter“ zugestellt wurde. Darin wurde mitgeteilt, dass eine Anschuldigung wegen Belästigung erhoben worden sei und dass AB die Beschwerdeführerin aufgefordert habe, ihm keine E-Mails mehr zu schicken. Sie wurde darauf hingewiesen, dass sie anderenfalls verhaftet und strafrechtlich verfolgt werden könnte. 2014 veröffentlichte die Beschwerdeführerin auf ihrer Website einen Artikel über AB und postete eine Reihe von öffentlichen Kurznachrichten über Twitter mit falschen Behauptungen, die AB zwar nicht namentlich nannten, sich aber wohl unstrittig auf ihn bezogen. AB wendete sich erneut an die Polizei, die die Beschwerdeführerin daraufhin in Gewahrsam nahm. Ihre Freilassung erfolgte unter der Auflage eines strikten Kontakt- und Veröffentlichungsverbots hinsichtlich AB. Das Strafverfahren wegen Belästigung wurde schließlich eingestellt. Eine nachfolgende Klage der Beschwerdeführerin gegen die Polizei auf Schadensersatz und Feststellung der Rechtswidrigkeit der gegen sie gerichteten Maßnahmen wegen u.a. behaupteter Verletzung von Art. 10 EMRK blieb ebenso wie sich anschließende Rechtsmittel erfolglos.

Die Gründe:
Der EGMR bejahte, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen gewesen sei und mit der Aufrechterhaltung der Ordnung, Verhütung von Straftaten bzw. dem Schutz des guten Rufes oder der Rechte des AB einen legitimen Zweck verfolgt habe. Er sei jedoch nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen.

Der Gerichtshof verwies erneut auf seine Kriterien, die der Prüfung von Sachverhalten wie dem vorliegenden zugrunde liegen müssen. Danach muss eine Veröffentlichung bewertet werden nach: a) Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse, b) Bekanntheitsgrad der betroffenen Person, c) Gegenstand der Berichterstattung, d) vorheriges Verhalten der betroffenen Person sowie e) Inhalt, Form und Folgen der Veröffentlichung. Er unterstrich zudem die Art und Weise der Erlangung von Informationen, die Bestandteil der Berichterstattung/Veröffentlichung waren, ihren Wahrheitsgehalt und die Schwere der verhängten Sanktion als bewertungsrelevante Kriterien. Schließlich verwies er auf seine ständige Rechtsprechung zu Tatsachenbehauptungen und Werturteilen.

Der Gerichtshof unterstrich, dass die Veröffentlichungen der Beschwerdeführerin vor den nationalen Gerichten an keiner Stelle als Hassrede oder Gewalt fördernd eingestuft worden waren. Vielmehr habe AB geltend gemacht, dass diese „weitgehend falsch“ gewesen seien, ihm akute Angst eingeflößt und seiner Karriere geschadet hätten. Die Festnahme der Beschwerdeführerin habe auf diesem subjektiven Standpunkt von AB beruht, ohne dass anerkannt worden sei, dass sich das Recht auf freie Meinungsäußerung auch auf Informationen oder Ideen erstreckt, die beleidigen, schockieren oder verstören. Zudem sei offenbar das Thema des Artikels und der Tweets und ob sie zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beitrugen, bei der Entscheidungsfindung nicht berücksichtigt worden. Auch das frühere Verhalten von AB und ob seine Tätigkeit als Journalist, die Gegenstand des Artikels und der Tweets war, privater oder öffentlicher (mit der Folge weiter gefasster Grenzen zulässiger Kritik als bei normalen Bürgern) Natur war, sei ungeprüft geblieben, ebenso wie der Wahrheitsgehalt der Informationen sowie ob der Angriff auf den guten Ruf von AB einen ausreichenden Schweregrad erreichte und sein Recht auf Achtung seines Privatlebens beeinträchtigte. Nicht nur bei der polizeilichen Ermittlung, sondern auch vor der Entscheidung über die Anklageerhebung seien diese Kriterien nicht näher geprüft worden, obwohl sie für die spätere Entscheidung, das Verfahren einzustellen, ausschlaggebend gewesen seien. Diese Tatsache sei von dem Gericht, vor dem die Beschwerdeführerin auf Schadensersatz und Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahmen gegen sie geklagt hatte, und dem Instanzgericht unberücksichtigt geblieben und eine aussagekräftige Bewertung durch diese Gerichte daher nicht erfolgt, so dass die Verletzung des Konventionsrechts durch die Festnahme und das Strafverfahren weiter bestanden.

Der EGMR hielt einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 17.12.2021 11:13
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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