EGMR, Urt. v. 5.4.2022 - 49588/12 u.a.

Meinungsfreiheit – Russland: Aufruf zur Nichtwahl einer Partei oder zur Stimmenthaltung bei Wahlen

Russische Sanktionen wegen Flugblättern, mit denen zur Nichtwahl einer Partei oder einem Wahlboykott aufgerufen wird, verstoßen gegen die Meinungsfreiheit (49588/12 und 3 weitere - Teslenko u.a. gegen Russland).

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer sind vier russische Staatsbürger (T., L., D., N.). Gegen sie waren voneinander unabhängige Ordnungswidrigkeiten-Verfahren eingeleitet worden, weil sie dazu aufgerufen hatten, nicht für die (Regierungs-) Partei „Einiges Russland“ zu stimmen bzw. die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2011, 2012 und 2018 vollständig zu boykottieren: T. war 2011 von Polizisten dabei beobachtet worden, wie er Flugblätter u.a. mit der Aufschrift „Einiges Russland ist eine Partei der Gauner und Diebe“ an eine Wand anbrachte, während L. eine ähnliche Aufschrift auf die Heckscheibe seines Autos geschrieben hatte. D. und N. hatten 2018 im Rahmen der „Wählerstreik“-Kampagne ebenfalls Flugblätter mit Informationen über Bürgerechte im Rahmen einer Wahl an Wänden angebracht. T. und N. waren zudem nach ihren Aktionen mehrere Stunden auf einem Polizeipräsidium festgesetzt worden.

Die Gründe:
Hinsichtlich der Aufrufe von T. und L., nicht für eine bestimmte politische Partei zu stimmen, hielt der EGMR fest, dass es nach russischem Recht Privatpersonen erlaubt ist, während einer Wahlkampagne andere Wähler zu informieren und Vorwahlkampf zu betreiben, sofern dabei keine persönliche Kosten entstehen. Allerdings führten bereits geringfügige Kosten etwa für den Druck von Flugblättern das Risiko einer Verfolgung wegen unrechtmäßiger Vorwahlkampagnen mit sich. Der EGMR hielt es für unwahrscheinlich, dass eine Teilnahme an oder die Organisation von öffentlichen Wahlkampfveranstaltungen ganz ohne Geld- oder Sachausgaben durch die betreffende Person möglich wäre. Bürger, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen wollten, indem sie sich im Zusammenhang mit einer bevorstehenden Wahl kritisch äußerten, befänden sich in einem Dilemma: Entweder sie verzichteten auf ihre Äußerungen oder sie riskierten verwaltungsrechtliche Sanktionen oder sogar eine Verhaftung, und dies während der gesamten etwa dreimonatigen Wahlperiode vom Beginn des Wahlkampfes bis nach dem Wahltag. Die Beschwerdeführer seien demnach praktisch völlig daran gehindert worden, Inhalte zu verbreiten, um Wähler zu ermutigen, bei den bevorstehenden Wahlen in einer bestimmten Weise abzustimmen. Somit sei ihre vom Recht auf freie Meinungsäußerung geschützte Möglichkeit, eine Wahl zu beeinflussen, unverhältnismäßig eingeschränkt worden.

Mit Blick auf die Aufrufe von D. und N., sich der Stimme zu enthalten, befand der EGMR, dass sie keine Aufforderungen zu rechtswidrigen Handlungen darstellten, da es nach russischem Recht keine Wahlpflicht gebe. Auch sei nicht zu Hass, Intoleranz oder Diskriminierung aufgestachelt oder zur Begehung von Gewalt oder anderen Straftaten aufgerufen worden. Die nationalen Gerichte hatten festgestellt, dass es sich bei den Flugblättern um eine Meinungsäußerung gehandelt habe, waren gleichzeitig aber zu dem Schluss gekommen, ihr Inhalt sei irreführend und unwahr gewesen. Der Gerichtshof betonte, dass jedoch die Wahrheit von Werturteilen nicht beweisbar und die Forderung, die Wahrheit eines Werturteils zu beweisen, unmöglich zu erfüllen sei. Sie verstoße gegen die Meinungsfreiheit selbst. Zudem sei nicht erwiesen, dass das beanstandete Material falsche Informationen enthalten habe. Auch hätten sich die nationalen Gerichte nicht mit der Frage befasst, ob die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung vorliegend zu einer landesweiten Debatte über ein Thema von allgemeinem Interesse beigetragen hatte. Die Flugblätter hätten aber Informationen über die Rechte der Wähler enthalten und Bürger ermutigt, sich am Wahlprozess zu beteiligen, insbesondere durch die Tätigkeit als Wahlbeobachter. Sie hätten nicht darauf abgezielt, einen bestimmten Kandidaten hervorzuheben und dessen Wahlchancen zu fördern oder zu beeinträchtigen. Die nationalen Gerichte waren schließlich zu der Auffassung gelangt, dass das beanstandete Material die Wähler dahingehend hätte beeinflussen können, den Standpunkt des Beschwerdeführers D. zu übernehmen und dass dies tatsächlich dessen Absicht gewesen sei. Dazu hielt der EGMR fest, dass es in einer Demokratie jedoch oft der Kern des Rechts auf freie Meinungsäußerung sei, andere von einem Standpunkt zu überzeugen. Die bloße Tatsache einer solchen Absicht sei nicht ausreichend, um staatliche Sanktionen zu rechtfertigen. Was schließlich den Verweis der Regierung auf die Notwendigkeit, die Wahlenthaltung zu verringern, betrifft, so habe sie nicht überzeugend dargelegt, wie die bloße Äußerung eines Standpunkts bezüglich der Nichtteilnahme an einer bevorstehenden Wahl einen unzulässigen Einfluss auf die Wahlberechtigten hätte ausüben können, da keine Elemente einer Nötigung oder Behinderung nachgewiesen worden seien.

Der EGMR hielt einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest. Daneben bejahte er einstimmig eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) hinsichtlich der Beschwerdeführer T. und N.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.05.2022 17:31
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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