EGMR, Urt. v. 12.4.2022 - 15136/20

Meinungsfreiheit - Dänemark: Verurteilung wegen Beihilfe zum Suizid

Die EMRK sieht kein Recht auf Beihilfe zum Suizid vor, was auch für die Bereitstellung von Informationen, die über die Bereitstellung allgemeiner Informationen über den Suizid hinausgeht, gilt (Lings gegen Dänemark).

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer ist Arzt im Ruhestand und Gründer einer Sterbehilfeorganisation. Im Rahmen dieser Organisation erstellte er einen Leitfaden mit dem Titel „Für den Selbstmord geeignete Medikamente“, den er im Internet veröffentlichte. Eine solche Publikation ist nach dänischem Recht legal. Es handelte sich dabei um einen Leitfaden für die Durchführung eines Suizids mit detaillierten Beschreibungen der verschiedenen Medikamente, der erforderlichen Dosierung und ihrer Einnahme bzw. Anwendung. Im Jahr 2017 wurde der Beschwerdeführer nach einem Radiointerview, in dem er angab, jemandem bei der Selbsttötung geholfen zu haben, aus dem Arztregister gestrichen. Er wurde später wegen Beihilfe zum Suizid in zwei Fällen und Beihilfe zum versuchten Suizid in einem Fall zu einer Freiheitsstrafe von 60 Tagen verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde: Er hatte zwei Personen Medikamente verschrieben, obwohl er gewusst hatte, dass sie die Absicht hatten, Suizid zu begehen. Weiterhin hatte er einer anderen Person geraten, sich eine Plastiktüte über den Kopf zu ziehen und gleichzeitig eine Überdosis Medikamente einzunehmen. Zwei Personen starben. Der Beschwerdeführer machte geltend, er habe lediglich allgemeine Ratschläge zur Selbsttötung erteilt. Seine Rechtsmittel blieben ohne Erfolg.

Die Gründe:
Der Gerichtshof bejahte, dass die Verurteilung einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung darstelle, der gesetzlich vorgesehen gewesen sei. Beihilfe zum Suizid sei in Dänemark seit 1930 illegal, und das einschlägige Gesetz sehe vor, dass eine konkrete Beihilfe zur Selbsttötung stattgefunden haben muss, um verurteilt zu werden. Die allgemeine, nicht an eine bestimmte Person gerichtete Verbreitung von Informationen über den Suizid hingegen stehe nicht unter Strafe.

Vorliegend habe der konkrete Rat des Beschwerdeführers, obwohl er sich auf seinen Leitfaden zur Selbsttötung stützte, eine der Personen zum Suizid verleitet. Die Verurteilung habe sich folglich nicht auf die (legale) Veröffentlichung des Leitfadens gestützt, sondern auf die konkrete Beratung von Einzelpersonen. Zudem habe der Beschwerdeführer in zwei Fällen durch seine Handlungen wissentlich Medikamente zum Suizid seiner Patienten beschafft. Im dritten Fall habe der Beschwerdeführer in spezifischer und erheblicher Weise bei der Selbsttötung geholfen.

Der EGMR hielt fest, dass die EMRK kein Recht auf Beihilfe zum Suizid vorsehe. Dies erstrecke sich auch auf die Bereitstellung von Informationen, die über die Bereitstellung allgemeiner Informationen über den Suizid im Rahmen des Schutzes von Art. 10 EMRK hinausgehe oder eine entsprechende Hilfeleistung. Da der Beschwerdeführer nicht wegen der Bereitstellung allgemeiner Informationen über Suizid, einschließlich des von ihm erstellten und im Internet öffentlich zugänglichen Leitfadens zum Thema der Selbsttötung, sondern wegen Beihilfe zum Suizid durch konkrete Handlungen strafrechtlich verfolgt worden war, ging es in diesem Fall nicht um das Recht des Beschwerdeführers, Informationen bereitzustellen, auf die andere nach der Konvention ein Recht haben.

Die dänischen Gerichte hätten bei der Verurteilung des Beschwerdeführers und hinsichtlich des Strafmaßes innerhalb ihres weiten Ermessensspielraums gehandelt. Die Ziele der Behörden, nämlich der Schutz der Gesundheit und der Moral sowie der Rechte anderer, seien legitim gewesen. Es sei die Pflicht der innerstaatlichen Behörden, gefährdete Mitglieder der Gesellschaft zu schützen. Zudem sei das hohe Alter des 1941 geborenen Beschwerdeführers als mildernder Umstand gewertet und im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt worden.

Der EGMR verneinte folglich einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.05.2022 17:34
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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