EGMR v. 31.5.2022 - 208/18

Meinungsfreiheit - Türkei: Unrechtmäßige und willkürliche Untersuchungshaft des Vorsitzenden der türkischen Sektion von Amnesty International

Unter bestimmten Voraussetzungen können die Grundsätze für die Inhaftierung von Journalisten auf die Untersuchungshaft von Menschenrechtsverteidigern angewandt werden. (Taner Kılıç (Nr. 2) gegen Türkei)

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer war zum beschwerdeerheblichen Zeitpunkt Vorsitzender der türkischen Sektion der Nichtregierungsorganisation Amnesty International. Er wurde im Juni 2017 unter dem Verdacht festgenommen, der Organisation FETÖ/PDY1, die in der Türkei als Terrororganisation gilt, anzugehören. Die Behörden warfen ihm unter anderem die Nutzung des Nachrichtendienstes ByLock auf seinem Smartphone und Abonnements bestimmter Publikationen wie der Zeitung Zaman, die angeblich mit FETÖ/PDY in Verbindung steht, vor. Gegen die Anordnung der Untersuchungshaft legte der Beschwerdeführer erfolglos Einspruch ein. Vielmehr wurde die Untersuchungshaft zwischen Juni 2017 und August 2018 mehrfach zunächst von den Amtsgerichten, dann von den Berufungsgerichten in İzmir und Istanbul verlängert. Bei den Berufungsgerichten wurden im August und Oktober 2017 zwei getrennte Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer unter anderem wegen Mitgliedschaft in mehreren Terrororganisationen eingeleitet.

Am 15.8.2018 ordnete der Istanbuler Gerichtshof zunächst die Freilassung des Beschwerdeführers an, bevor es ihn im Juli 2020 wegen der Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilte. In der Zwischenzeit hatte der Beschwerdeführer eine Individualbeschwerde beim türkischen Verfassungsgericht und eine Schadensersatzklage vor dem Gerichtshof von İzmir eingereicht, die beide abgewiesen wurden. Die Schadensersatzklage ist nunmehr vor einem höheren innerstaatlichen Gericht anhängig.

Der Beschwerdeführer rügt wegen der anfänglichen und fortgesetzten Untersuchungshaft eine Verletzung insbesondere von Art. 10 EMRK.

Die Gründe:
Mit Blick auf die gerügte Verletzung von Art. 10 EMRK hielt der EGMR fest, dass, in Anbetracht der Bedeutung ihrer Tätigkeiten im Bereich der Menschenrechte, die Grundsätze für die Inhaftierung von Journalisten und Medienschaffenden auf die anfängliche und fortgesetzte Untersuchungshaft von Menschenrechtsverteidigern oder von Leitern oder Aktivisten solcher Organisationen angewandt werden könnten. Dazu müsse die Untersuchungshaft im Rahmen eines Strafverfahrens gegen sie wegen Straftaten verhängt worden sein, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Tätigkeiten zum Schutz der Menschenrechte stehen.

Der Gerichtshof vertrat die Auffassung, dass die anfängliche Untersuchungshaft des Beschwerdeführers wegen Handlungen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger standen, eine tatsächliche und effektive Beschränkung und damit einen Eingriff in die Ausübung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung dargestellt hatte. Die Inhaftierung des Beschwerdeführers stelle somit einen Eingriff in seine Rechte aus Art. 10 EMRK dar.

Der EGMR wies weiterhin darauf hin, dass die Inhaftierung des Beschwerdeführers nicht durch einen begründeten Verdacht gerechtfertigt gewesen war, dass er eine Straftat im Sinne von Art. 5 EMRK  begangen habe. Daher sei eine Verletzung seines Rechts auf Freiheit und Sicherheit, wie es in Art. 5 Abs. 1 EMRK verankert ist, gegeben. Zudem könne eine Person gemäß Art. 100 der türkischen Strafprozessordnung nur dann in Untersuchungshaft genommen werden, wenn Tatsachen vorliegen, die einen dringenden Verdacht begründen, dass sie eine Straftat begangen habe. Das Fehlen eines begründeten Verdachts hätte erst recht das Fehlen eines dringenden Tatverdachts implizieren müssen.

Weiterhin hielt der EGMR fest, dass Art. 5 Abs. 1 EMRK eine erschöpfende Liste zulässiger Gründe enthält, aus denen einer Person die Freiheit entzogen werden kann. Eine Freiheitsentziehung sei nur dann rechtmäßig, wenn sie unter einen dieser Gründe fällt. Zudem solle das in den Art. 5 und 10 EMRK enthaltene Erfordernis der Rechtmäßigkeit den Einzelnen vor Willkür schützen.

Folglich könne eine nicht rechtmäßige Freiheitsentziehungsmaßnahme, wenn sie einen Eingriff in eine der durch die Konvention geschützten Freiheiten darstelle, grundsätzlich nicht als eine im nationalen Recht vorgesehene Beschränkung dieser Freiheit angesehen werden. Der Eingriff in die Ausübung der durch Art. 10 EMRK garantierten Rechte und Freiheiten des Beschwerdeführers könne daher nicht gerechtfertigt werden, da er bereits nicht gesetzlich vorgesehen sei.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK sowie von Art. 5 Abs. 1, 3 und 5 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 20.06.2022 10:03
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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