EGMR, Urt. v. 14.6.2022 - 70489/17 und 44652/18

Recht auf Achtung des Privatlebens / Meinungsfreiheit – Ehemalige Regierungschefs und Äußerungen in Zusammenhang mit Korruptionsvorwürfen

Der EGMR entscheidet in zwei voneinander unabhängigen aber inhaltlich vergleichbaren Fällen von den früheren Regierungschefs Litauens und Rumäniens eingereichten Beschwerden bezüglich Art. 8 bzw. Art. 10 der EMRK. (Algirdas Butkevičius gegen Litauen und Ponta gegen Rumänien)

+++ 70489/17 +++

Der Sachverhalt
:
Der Beschwerdeführer war zum streitgegenständlichen Zeitraum Premierminister von Litauen. Er hatte mit einem Bürgermeister ein Telefongespräch geführt, das während eines Ermittlungsverfahrens wegen möglicher Korruption heimlich aufgezeichnet wurde. Die Aufzeichnung war gerichtlich angeordnet worden und betraf die Telefongespräche des betreffenden Bürgermeisters. Das Ermittlungsverfahren wurde schließlich mit der Begründung eingestellt, dass keine Straftat begangen worden war. Der Staatsanwalt übermittelte der Antikorruptionskommission des litauischen Parlaments das Untersuchungsmaterial, ohne jedoch anzugeben, dass es nicht weiter veröffentlicht werden sollte. Das Telefonat wurde bei einer öffentlichen Anhörung der Kommission im Beisein mehrerer Journalisten veröffentlicht, was zur ausschnittsweisen Online-Publikation und anschließender breiter medialer Berichterstattung führte. Rechtsmittel blieben ohne Erfolg. Der Beschwerdeführer rügte einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK.

Die Gründe:
Der EGMR anerkannte, dass das Berufsleben, selbst in einem öffentlichen Kontext, zuweilen den Bereich des Privatlebens berühren kann. Vorliegend seien Ruf und Ehre des Beschwerdeführers einerseits und das Recht der Presse, über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu berichten andererseits sorgfältig abgewogen worden. Der EGMR akzeptierte die Rechtsprechung des innerstaatlichen Verfassungsgerichts, wonach die Tätigkeiten von Staats- und Kommunalbeamten im Zusammenhang mit ihren Funktionen stets öffentlicher Natur sind. Er betonte zudem die Bedeutung der öffentlichen Kontrolle in Fällen möglicher politischer Korruption.

Selbst wenn der Ruf des Beschwerdeführers durch die Offenlegung seines Telefongesprächs beeinträchtigt worden war, gebe es keine Anhaltspunkte dafür, dass er in einem unverhältnismäßigen Ausmaß beeinträchtigt wurde. Konkrete und greifbare Auswirkungen der Veröffentlichung des Telefongesprächs durch die Medien auf das Privatleben des Beschwerdeführers seien nicht ersichtlich.

Der EGMR verneinte folglich einstimmig eine Verletzung von Art. 8 EMRK.


+++ 44652/18 +++

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer war im streitgegenständlichen Zeitraum Abgeordneter im rumänischen Parlament und zuvor rumänischer Premierminister. Im Zuge von Korruptionsermittlungen gegen L.I., ein stellvertretendes Mitglied seines früheren Kabinetts, veröffentlichte er einen die Vorwürfe bestätigenden Facebook-Post. Zwei Fernsehsendungen griffen die Aussage auf. L.I. reichte erfolgreich mit dem Argument, die Aussagen seien falsch und verleumderisch und hätten seinen Ruf und sein Image geschädigt, Schadensersatzklage ein. Der Beschwerdeführer wurde letztinstanzlich zur Zahlung von umgerechnet etwa 2.200 Euro als Ersatz für immateriellen Schaden verurteilt. Er rügte einen Verstoß gegen Art. 10 EMRK.

Die Gründe:
Der EGMR stellte fest, dass die Handlungen der Protagonisten des Falles in einem öffentlichen Kontext stattgefunden hatten und dass das fragliche Posting auf dem sozialen Netzwerk als Beitrag zur Debatte über eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse, nämlich politische Korruption, verstanden werden konnte. In diesem Zusammenhang sei das Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung im weiteren Kontext einer Debatte zwischen zwei Politikern nicht berücksichtigt worden. Auch habe es den Äußerungen nicht an einer Tatsachengrundlage gefehlt, da sich der Beschwerdeführer auf einen bestimmten Zeitpunkt seiner Amtszeit und auf ganz bestimmte Informationen bezogen habe. Er habe die Quelle dieser Informationen angegeben und relevante Einzelheiten zum Kontext des Falles genannt. Zudem hätten die innerstaatlichen Gerichte dem Beschwerdeführer die Möglichkeit genommen, die Vernehmung von Zeugen vorzuschlagen und zu erwirken, da sie sich trotz wiederholter Anträge des Beschwerdeführers geweigert hatten, L.I. zu vernehmen. Indem sie vom Beschwerdeführer verlangten, den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen zu beweisen, und ihm gleichzeitig eine wirksame Möglichkeit verweigerten, Beweise zu seiner Verteidigung vorzulegen, hätten sie ihren Ermessensspielraum überschritten.

Unter Art. 10 EMRK sei weiterhin insbesondere und schon für sich genommen problematisch, dass nicht zwischen dem Recht von L.I. auf Achtung seines guten Rufs und dem Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung abgewogen worden war. Dass ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis bestehe, den Schutz der Persönlichkeitsrechte von L.I. über das Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung und über das allgemeine Interesse an der Durchsetzung dieser Freiheit in Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu stellen, hätten die innerstaatlichen Gerichte nicht überzeugend dargelegt.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.07.2022 12:53
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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