EGMR, Urt. v. 7.6.2022 - 42713/15

Meinungsfreiheit - Portugal: Ehrverletzung durch satirische Karikaturen

Der EGMR betont die Rolle von Karikaturen und Satire im politischen Diskurs. (Patrício Monteiro Telo de Abreu gegen Portugal)

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer (Bf.) ist Mitglied einer politischen Partei und kommunalpolitisch in der Gemeinde Elvas aktiv. Er hatte drei Karikaturen zusammen mit einem von ihm verfassten Text auf seinem Blog veröffentlicht. Die Karikaturen zeigten einen weißhaarigen Esel im Anzug neben einer mit Reizwäsche bekleideten Sau mit nackten Brüsten und blondem Haar; sie waren von ebenfalls unbekleideten Schweinen umgeben, die alle eine Armbinde mit „CMR“ (Abkürzung für „Gemeinde Rondónia“) trugen. Die Karikaturen stammten von dem lokalen Künstler A.C. und waren Teil einer Serie, die zuvor in einer Lokalzeitung unter dem Titel „A Rondónia“ veröffentlicht worden war, wobei die streitgegenständlichen Karikaturen selbst unveröffentlicht geblieben waren. Der Begriff „A Rondónia“ stammte ursprünglich aus einer in der Zeitung Público veröffentlichten politischen Kolumne, die den Gemeinderat von Elvas parodierte, der damals von José Rondão Almeida geleitet wurde, Mitglied einer Partei in Gegnerschaft zu der des Bf. Daraufhin erstattete E.G., eine damalige Gemeinderätin in Elvas, Strafanzeige gegen den Bf., A.C. und den Herausgeber der Lokalzeitung wegen Verletzung ihrer Ehre und ihres guten Rufs aufgrund der Art und Weise ihrer Darstellung in den in der Zeitung und im Blog veröffentlichten Karikaturen. Der Bf. wurde der schweren Verleumdung von E.G. für schuldig befunden und zu einer Geldstrafe und zur Zahlung von Schadensersatz an E.G. verurteilt. Inklusive der Gerichtskosten betrug sich die Gesamtsumme auf annähernd 5.000 Euro. Rechtsmittel blieben ohne Erfolg.

Die Gründe:
Der EGMR stellte fest, dass die innerstaatlichen Gerichte anerkannt hatten, dass der Bf. ein politischer Gegner von E.G. war und dass es sich bei den fraglichen Karikaturen um politische Satire gehandelt hatte. Satire sei eine Form des künstlerischen Ausdrucks und des sozialen Kommentars, die durch ihre charakteristische Übertreibung und Verzerrung der Realität naturgemäß darauf abziele, zu provozieren und zu erregen. Jeder Eingriff in das Recht eines Künstlers oder einer anderen Person, sich dieses Ausdrucksmittels zu bedienen, müsse daher mit besonderer Sorgfalt geprüft werden, da Satire zur öffentlichen Debatte beitrage.

Vorliegend sei der Kontext der Karikaturen auf dem Blog des Bf. von den nationalen Gerichten unberücksichtigt geblieben. Sie seien Teil einer Serie von zuvor veröffentlichten Karikaturen gewesen, die das lokale politische Leben in Elvas persiflierten.

Anders als die innerstaatlichen Gerichte sah der EGMR nicht, dass der Karikaturist mit den nebeneinander stehenden, als Tiere dargestellten Figuren/Personen des Bürgermeisters und E.G., seiner lokal sehr bekannten „rechten Hand“, eine intime Beziehung zwischen ihnen andeuten wollte. Es sei nicht zu erkennen, wie sich aus der Gestaltung der Karikaturen eine solche Andeutung ableiten lasse, da nirgends zu sehen sei, dass sich die Figuren küssten, berührten oder miteinander kommunizierten. Zwar spiegelten die Karikaturen bestimmte beklagenswerte Stereotypen in Bezug auf Frauen in Führungspositionen wider. Der begleitende Text des Bf. zeige jedoch, dass seine eigentliche Absicht bei der Veröffentlichung darin bestand, die durch die Karikaturen zum Ausdruck gebrachte politische Satire hervorzuheben und indirekt die Gemeindeleitung in seiner Eigenschaft als politischer Gegner und Mitglied der Gemeindeversammlung zu kritisieren. Die Kommentare enthielten weder einen konkreten Hinweis auf E.G., ihre politischen Aktivitäten oder ihr Privat- oder gar Sexualleben, noch beleidigende oder stigmatisierende Bemerkungen über sie.

Die innerstaatlichen Gerichte hätten durch ihren Fokus auf die Beeinträchtigung des guten Rufs von E.G. die Karikaturen aus ihrem eigentlichen Kontext gerissen und in einer Weise ausgelegt, die der laufenden politischen Debatte nicht ausreichend Rechnung trage. Auch sei nicht ausreichend berücksichtigt worden, dass alle gewählten Vertreter zwangsläufig dieser Art von Satire und Karikatur ausgesetzt seien und daher in dieser Hinsicht ein höheres Maß an Toleranz zeigen müssten. Dies gelte umso mehr, als vorliegend die Karikaturen trotz der verwendeten Stereotypen innerhalb der für Satire typischen Grenzen der Übertreibung und Provokation geblieben seien. Auch sei E.G. nicht die einzige Figur gewesen, die unbekleidet dargestellt wurde; alle Schweine seien auf die gleiche Weise abgebildet und der Bürgermeister eindeutig abwertend als Esel dargestellt worden. Die Karikaturen hätten sich also gegen die Mitglieder des Gemeinderats als Ganzes gerichtet.

Die innerstaatlichen Gerichte seien zudem davon ausgegangen, dass der Bf. die Karikaturen durch die Verbreitung über das Internet einem breiteren Publikum bekannt gemacht habe, ohne näher zu untersuchen, wie groß die Reichweite der Karikaturen oder ihre Zugänglichkeit durch Veröffentlichung auf dem Blog war, und auch nicht, ob der Bf. ein bekannter Blogger oder ein beliebter Nutzer sozialer Medien war, was die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen und die potenzielle Wirkung der Karikaturen erhöht haben könnte. Zudem habe der Bf., als er von der Strafanzeige erfuhr, die Karikaturen unverzüglich entfernt, was darauf hindeute, dass er in gutem Glauben gehandelt hatte.

Die Verurteilung des Bf. zu einer Geldstrafe und zur Zahlung von Schadensersatz an E.G. sei offensichtlich unverhältnismäßig gewesen. Die für die Verurteilung angeführten Gründe seien nicht stichhaltig und ausreichend. Die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen für ein Verhalten wie das des Bf. im vorliegenden Fall sei geeignet, eine abschreckende Wirkung auf satirische Ausdrucksformen zu politischen Themen zu haben.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.07.2022 12:57
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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