EGMR Urt. v. 15.9.2022 - 8257/13

Meinungsfreiheit - Polen: Verurteilung eines polnischen Popstars wegen Blasphemie

Keine Rechtfertigung für Geldstrafe wegen frivoler Ablehnung der Bibel in einem Interview. (Rabczewska gegen Polen)

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin ist eine unter dem Namen Doda bekannte polnische Popsängerin. In einem Interview für eine Nachrichten-Website, das anschließend in einer Boulevardzeitung abgedruckt wurde, tätigte sie Äußerungen über die Bibel und ihre Urheber. Insbesondere erklärte sie, dass sie eher von wissenschaftlichen Entdeckungen überzeugt sei und nicht von dem, was sie als „die Schriften von jemandem, der vom Weintrinken und Kiffen besoffen ist“ bezeichnete. Zwei Personen erstatteten bei der Staatsanwaltschaft wegen der Verletzung der religiösen Gefühle anderer Personen durch öffentliche Beleidigung eines Objekts der Religionsausübung, einer Straftat nach polnischem Recht, Anzeige. Im Strafverfahren argumentierte die Beschwerdeführerin, dass sie keine Beleidigung beabsichtigt habe. Sie habe mit Blick auf ihr junges Publikum von Musikfans die Fragen des Journalisten lediglich auf „ehrliche, subjektive und frivole Weise“ beantwortet. Die Beschwerdeführerin wurde zu einer Geldstrafe von 5.000 polnischen Zloty (etwa 1.160 Euro) verurteilt. Ihre Rechtsmittel gegen dieses Urteil, einschließlich einer Verfassungsbeschwerde, blieben erfolglos.

Die Gründe:
Die Verurteilung der Beschwerdeführerin habe einen Eingriff in ihr Recht auf freie Meinungsäußerung dargestellt, der gesetzlich vorgesehen gewesen war und das Ziel verfolgt hatte, religiöse Gefühle zu schützen, was dem Schutz der Rechte anderer im Sinne von Art. 10 Abs. 2 EMRK entsprochen habe. Trotz ihres weiten Ermessensspielraums hätten die nationalen Behörden aber keine ausreichenden Gründe angeführt, die den Eingriff rechtfertigen könnten.

Der EGMR hielt fest, dass die Beschwerdeführerin ihre Äußerungen nicht als Teil einer Debatte über eine Frage von öffentlichem Interesse verstanden hatte. Sie habe auch nicht behauptet, eine einschlägige Expertin, eine Journalistin oder eine Historikerin zu sein. Vielmehr habe sie auf die Frage eines Journalisten nach ihrem Privatleben geantwortet und sich in einer ihrem Kommunikationsstil entsprechenden, bewusst frivolen und farbenfrohen Sprache an ihr Publikum gewandt, um Interesse zu wecken. Die innerstaatlichen Gerichte hätten es versäumt, ordnungsgemäß, nämlich auf der Grundlage einer eingehenden Analyse des Wortlauts, zu beurteilen, ob es sich bei den Äußerungen um Tatsachenbehauptungen oder Werturteile gehandelt habe. Auch hätten sie die konkurrierenden Interessen, die auf dem Spiel standen, nicht ermittelt und sorgfältig abgewogen. Auch die zulässigen Grenzen der Kritik an religiösen Lehren gegenüber deren Verunglimpfung nach der EMRK seien nicht diskutiert worden. Insbesondere hätten die innerstaatlichen Gerichte nicht geprüft, ob die Äußerungen geeignet waren, berechtigte Empörung hervorzurufen, zum Hass aufzustacheln oder auf andere Weise den religiösen Frieden und die Toleranz in Polen zu stören.

Weder vor den innerstaatlichen Gerichten noch vor dem EGMR sei geltend gemacht worden, dass die Äußerungen Hassreden darstellten. Es scheine, dass die einschlägige innerstaatliche Rechtsvorschrift jedes Verhalten unter Strafe stellt, das geeignet ist, religiöse Gefühle zu verletzen, ohne das zusätzliche Kriterium einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung.

Es sei nicht nachgewiesen worden, dass der vorliegende Eingriff gemäß den positiven Verpflichtungen des Staates nach Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) erforderlich war, um die friedliche Koexistenz religiöser und nicht-religiöser Gruppen und Einzelpersonen unter seiner Gerichtsbarkeit zu gewährleisten, indem der Staat eine Atmosphäre gegenseitiger Toleranz sicherstellt. Darüber hinaus hätten die fraglichen Äußerungen keinen unangemessenen oder missbräuchlichen Angriff auf ein Objekt der religiösen Verehrung dargestellt, der geeignet war, zu religiöser Intoleranz anzustiften oder den Geist der Toleranz zu verletzen, der eine der Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft darstellt.

Schließlich sei die Beschwerdeführerin in einem Strafverfahren verurteilt worden, das auf eine Anklageschrift zurückgeht, die von einem Staatsanwalt auf die Beschwerde zweier Personen hin eingereicht wurde. Selbst nachdem sich die Beschwerdeführerin mit einer dieser Personen gütlich geeinigt hatte, sei das Strafverfahren fortgesetzt worden und habe zu einer Geldstrafe in Höhe des Fünfzigfachen des Mindestbetrages geführt. Die verhängte Sanktion sei demnach nicht unbedeutend gewesen.

Der EGMR bejahte mit 6:1 Stimmen eine Verletzung von Art. 10 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.10.2022 14:30
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

zurück zur vorherigen Seite