EGMR Urt. v. 8.11.2022 - 74729/17

Meinungsfreiheit - Spanien: Wegen Verjährung ausbleibende Sanktion beseitigt nicht den Konventionsverstoß

Der EGMR bejaht wegen in die Zukunft gerichteter abschreckender Wirkung einen Verstoß gegen die Meinungsfreiheit, obwohl im Fall wegen Verjährung keine Sanktion verhängt worden war. (Ayuso Torres gegen Spanien)

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer ist Universitätsprofessor, der zum beschwerdegegenständlichen Zeitpunkt Angehöriger der spanischen Streitkräfte und zum Zeitpunkt des Verfahrens beim EGMR auf eigenen Wunsch Offizier der Reserve war. Er sprach in einer mit anderen Universitätsprofessoren geführten Fernsehdiskussion über den Übergangsprozess von der Militärdiktatur zur Demokratie in Spanien. Dabei erklärte er u.a., dass die Ursprünge der spanischen Verfassung, die er als „Pseudo-Verfassung“ bezeichnete, „falsch und geschönt“ seien. Der Beschwerdeführer hatte zuvor einschlägige akademische Artikel verfasst, in denen er dieselben Ansichten zum Ausdruck brachte. Obwohl er auch als Mitglied der Streitkräfte vorgestellt worden war, wurde im Laufe der Sendung wiederholt auf seine akademischen Tätigkeiten Bezug genommen. Wegen seiner Äußerungen wurde gegen den Beschwerdeführer ein Disziplinarverfahren vor einer Militärbehörde eingeleitet. Zwar wurde er nicht bestraft, da es sich nur um ein geringfügiges Delikt gehandelt habe, das bis zum Entscheidungszeitpunkt in jenem Verfahren verjährt gewesen sei. In der Disziplinarentscheidung hieß es jedoch, dass er die Grenzen des den Militärangehörigen zustehenden Rechts auf freie Meinungsäußerung überschritten habe. Der Beschwerdeführer beantragte erfolglos die Löschung dieser Aussage; seine Rechtsmittel blieben mangels verhängter Sanktion ohne Erfolg.

Die Gründe:
Mit Blick auf die Disziplinarentscheidung betonte der EGMR, dass der Beschwerdeführer sanktioniert worden wäre, wenn das Delikt nicht verjährt gewesen wäre, wobei je nach Einstufung der Tat ein bis zu einem Monatig dauernder Hausarrest bzw. die Einweisung in eine Disziplinarabteilung für bis zu zwei Monaten, mithin relativ schwerwiegende Folgen, drohten. Die angefochtene Aussage der Militärbehörde könne somit als faktische Warnung oder Ermahnung mit abschreckender Wirkung angesehen werden, die wegen der Gefahr eines neuerlichen Disziplinarverfahrens den Beschwerdeführer davon abhalten könne, in Zukunft ähnliche Meinungen zu äußern. Somit habe ein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung vorgelegen, der gesetzlich vorgesehen gewesen sei und legitime Ziele wie die nationale Sicherheit und den Schutz der öffentlichen Ordnung verfolgt habe.

Die Fernsehsendung habe Fragen betroffen, die als politisch angesehen werden könnten und in der spanischen Gesellschaft seit langem umstritten seien. Die Äußerungen des Beschwerdeführers hätten zu einer öffentlichen Debatte über ein Thema von allgemeinem Interesse beigetragen. Es handele sich um seine persönlichen Meinungen, deren Wahrheitsgehalt nicht beweisbar sei. Sie seien in dem spezifischen Kontext zu verstehen, in dem sie getätigt worden seien. Bereits in der innerstaatlichen Entscheidung sei festgestellt worden, dass der Beschwerdeführer nicht die Absicht gehabt habe, die Verfassung anzugreifen, sondern seine Äußerungen in einem kulturellen und wissenschaftlichen Kontext getätigt habe. Die Äußerungen hätten zu keiner Handlung jedweder Art aufgerufen und mit ihnen seien keine Auswirkungen auf das öffentliche Amt des Beschwerdeführers bzw. auf seine Leistung als Angehöriger des Militärs oder sonstige schädliche Auswirkungen einhergegangen.

In Anbetracht des militärischen Status des Beschwerdeführers habe der Staat bei seiner Beurteilung, ob ein Disziplinarverfahren einzuleiten sei, das Erfordernis berücksichtigen dürfen, dass Angehörige der Streitkräfte das besondere Vertrauens- und Loyalitätsverhältnis zwischen ihnen und dem Staat bei der Ausübung ihrer Funktionen respektieren und sicherstellen. Allerdings sei der Beschwerdeführer auch Universitätsprofessor gewesen, was zu einer Kollision seines Rechts auf freie Meinungsäußerung im akademischen Bereich mit den Einschränkungen im militärischen Bereich führen könne. Vorliegend sei es im Wesentlichen um die Ausübung des Rechts des Beschwerdeführers, seine Meinung als Wissenschaftler frei zu äußern, gegangen: Er habe sich zuvor im akademischen Bereich ohne Konsequenzen in ähnlicher Weise geäußert und die beanstandeten Äußerungen in einem akademischen Umfeld, einer Diskussion mit anderen Professoren, getätigt. Während der Sendung sei wiederholt auf seine Stellung als Wissenschaftler hingewiesen worden. Den Status des Beschwerdeführers als Professor für Verfassungsrecht hätten die innerstaatlichen Gerichte jedoch bei ihrer Bewertung der Ausgangsentscheidung nicht ordnungsgemäß berücksichtigt.

Auch wenn gegen den Beschwerdeführer keine Sanktion verhängt worden sei, habe die Feststellung, dass seine Äußerungen nicht durch das Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt seien, eine hinreichende Rüge für eine im Rahmen einer akademischen Debatte und zu einem Thema von allgemeinem Interesse geäußerte Meinung dargestellt. Mit Blick auf entsprechendes künftiges Verhalten des Beschwerdeführers entfalte sie abschreckende Wirkung.

Der EGMR bejahte somit einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 21.11.2022 09:42
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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