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Kollektives Urhebervertragsrecht und das Kartellverbot für Solo-Selbständige - Teil 1: Ausgangssituation und rechtlicher Rahmen (Höppner, AfP 2023, 1)

Es ist seit langem umstritten, unter welchen Voraussetzungen kollektive Vereinbarungen über die Vergütung von Urhebern mit dem Kartellverbot vereinbar sind. Die neuen Leitlinien der EU-Kommission zur Anwendung des Wettbewerbsrechts auf Kollektivvereinbarungen über Arbeitsbedingungen Solo-Selbständiger haben die Debatte neu entfacht. Der Beitrag erörtert die unionskartellrechtlichen Grenzen und was die neuen Leitlinien für die Praxis bedeuten.

I. Ausgangssituation
II. Gemeinsame Vergütungsregeln gem. § 36 UrhG

1. Unverbindlichkeit gemeinsamer Vergütungsregeln bis 2017
2. Branchenweite Verbindlichkeit gemeinsamer Vergütungsregeln seit 2017
III. Kollektivverträge nach dem TVG
1. Tarifverträge für Arbeitnehmer
2. Tarifverträge für Arbeitnehmerähnliche
3. Tarifverträge für arbeitnehmerähnliche Künstler, Schriftsteller und Journalisten
IV. Verhältnis von Tarifverträgen zu gemeinsamen Vergütungsregeln
V. Kollektivvereinbarungen und EU-Kartellverbot

1. Problemstellung
2. Unternehmen und Unternehmensvereinigungen als Normadressaten
a) Abgrenzung Unternehmer/Arbeitnehmer
b) Unternehmensvereinigungen und Gewerkschaften
3. Immanente Bereichsausnahmen vom Kartellverbot
a) Albany-Ausnahme für Tarifverträge zwischen Sozialpartnern
aa) Inhalt
bb) Begründung
cc) Voraussetzungen und Reichweite
dd) Anwendung auf Kollektivvereinbarungen für Urheber
(1) Tarifverträge nach § 12a Abs. 1 TVG
(2) Tarifverträge nach § 12a Abs. 3 TVG
(3) Gemeinsame Vergütungsregeln nach § 36 UrhG
b) Bereichsausnahme zur Korrektur gestörter Vertragsparität?
c) Bereichsausnahme für Förderung von Kultur?
d) Zwischenergebnis
4. Vereinbarung oder Beschluss
5. Spürbare Wettbewerbsbeschränkung
6. Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedsstaaten
7. Keine Freistellung gem. Art. 101 Abs. 3 AEUV
8. Tatbestandsausnahme wegen Akzeptanz von Kollektivvereinbarungen im Urheberrecht?
a) Nationale Regelungen
b) Urheberrechtsrichtlinie (EU) 2019/790
c) Ungeschriebene Tatbestandsausnahme?
9. Zwischenergebnis


I. Ausgangssituation
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Am 29.9.2022 verabschiedete die Europäische Kommission Leitlinien zur Anwendung des EU-Wettbewerbsrechts auf Kollektivvereinbarungen über die Arbeitsbedingungen von Solo-Selbständigen. Die Leitlinien legen dar, unter welchen Voraussetzungen sich bestimmte Selbständige zu Verhandlungen zusammenschließen können, ohne gegen das Verbot wettbewerbswidriger Vereinbarungen in Art. 101 AEUV zu verstoßen. Sie beziehen sich auch auf kollektive Vergütungsvereinbarungen für Leistungen von Urhebern. Damit haben sie in Deutschland eine alte Debatte neu belebt: Sind gemeinsame Vergütungsregeln nach § 36 UrhG und Tarifverträge nach § 4 und § 12a TVG mit dem Kartellverbot vereinbar, wenn sie sich (auch) auf die Tätigkeit Selbständiger erstrecken? Der Beitrag vertieft diese Debatte und erörtert, wie sich die neuen Leitlinien auswirken.

II. Gemeinsame Vergütungsregeln gem. § 36 UrhG
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Gem. §§ 32, 32a und 32c UrhG sind Urheber angemessen zu vergüten. Die Vergütung erfolgt allein als Gegenleistung für Nutzungsrechte, die ein Urheber gem. § 31 UrhG dem Verwerter seiner Werke einräumt. Zur Bestimmung der Angemessenheit der Vergütung dieser Lizenzierung können gem. § 36 Abs. 1 Satz 1 UrhG Vereinigungen von Urhebern mit Vereinigungen von Werknutzern oder einzelnen Werknutzern gemeinsame Vergütungsregeln aufstellen.

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Wie sich aus dem Verweis auf § 32 UrhG ergibt, steht § 36 Abs. 1 UrhG im Kontext einer Reihe von Regelungen, die nach dem Willen des Gesetzgebers dem „Ausgleich gestörter Vertragsparität“ im Verhältnis zwischen Urhebern und Verwertern bei der Einräumung von Nutzungsrechten dienen. Die Vergütungsregelungen sollen einer wirtschaftlichen Unterlegenheit von Kreativen gegenüber den Primärverwertern ihrer Werke begegnen, da diese Parität die Gefahr einseitig begünstigender Verträge begründet.

1. Unverbindlichkeit gemeinsamer Vergütungsregeln bis 2017
4
Eingeführt wurde § 36 UrhG im Rahmen der Novelle des Urhebervertragsrechts im Jahr 2002. In der ursprünglichen Fassung kam gemeinsamen Vergütungsregeln weder eine unmittelbare noch eine mittelbare Bindungswirkung zu. Ihre Rechtsnatur wurde allein in kooperativ ermittelten Maßstäben für eine angemessene Vergütung gesehen. Sie dienten lediglich als Anhaltspunkt dafür, ob die Vergütung eines Urhebers in den einzelnen Vertragsverhältnissen (Rundfunk, Fernsehen, Film, Buch-, Zeitungs- und Zeitschriftenverlag, Fotografie, Design etc.) angemessen ist oder nicht. Verwertern stand es frei, abweichende Vergütungen zu vereinbaren. Verwerter konnten sich insb. andere Nutzungsrechte mit entsprechend abweichender Vergütung einräumen lassen, als dies in einer generellen Vergütungsvereinbarungen vorgesehen war. Enthielt eine gemeinsame Vergütungsregelung bspw. die Aussage, dass für die Einräumung der Nutzungsrechte A, B, C und D eine Vergütung von 100 angemessen sei, so stand es Verwertern weiter frei, z.B. eine Vergütung von lediglich 80 für die Einräumung der Nutzungsrechte A, B und C (ohne D) oder für die Rechte E, F, G zu vereinbaren. Möglich war auch eine weitergehende Rechteeinräumung (bspw. der Rechte A, B, C und D sowie E und F) gegen eine höhere Vergütung (z.B. 120). Und es war nicht einmal ausgeschlossen, dass selbst für die Einräumung der Rechte A, B, C und D im Einzelfall eine Vergütung von lediglich 90 angemessen sein konnte. In allen diesen Fällen mussten die Verwerter dann lediglich den Nachweis führen, dass diese (niedrigeren) Sätze ihrerseits (noch) angemessen sind. Die Wirkung von § 32 Abs. 2 Satz 1 UrhG beschränkte sich damit auf die Vermutung, dass in bestimmten Konstellationen (im Beispiel: die Einräumung der Rechte A, B, C und D) eine bestimmte Vergütung (im Beispiel: 100) angemessen ist.

2. Branchenweite Verbindlichkeit gemeinsamer Vergütungsregeln seit 2017
5
Die Urheberrechtsnovelle von März 2017 hat den Rechtscharakter gemeinsamer Vergütungsregeln grundlegend geändert. Mit § 36b Abs. 1 UrhG wurde ein allgemeiner Unterlassungsanspruch gegen jeden Verwerter eingeführt, der „in einem Vertrag mit einem Urheber eine Bestimmung verwendet, die zum Nachteil des Urhebers von gemeinsamen Vergütungsregeln abweicht“. Gemäß § 36c Satz 1 UrhG kann sich ein Vertragspartner, der an der Aufstellung von gemeinsamen Vergütungsregeln beteiligt war, nun auch nicht mehr auf...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 21.02.2023 13:02
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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