EGMR v. 23.1.2023 - 61435/19

Meinungsfreiheit - Litauen: Kennzeichnung eines Märchenbuchs als für Kinder schädlich aufgrund LGBTI-Inhalts

Der EGMR (Große Kammer) beurteilt erstmals Beschränkungen für speziell für Kinder geschriebene Literatur über gleichgeschlechtliche Beziehungen. (Macatė gegen Litauen)

Der Sachverhalt:
Die mittlerweile verstorbene Beschwerdeführerin war eine offen lesbische Kinderbuchautorin. Im Jahr 2013 publizierte die Litauische Universität für Erziehungswissenschaften eines ihrer Bücher, „Bernsteinherz“, das Märchen für Neun- bis Zehnjährige enthielt und teilweise vom Kulturministerium finanziert wurde. In dem Buch, das sich an traditionelle Märchen anlehnt, kommen Figuren aus verschiedenen ethnischen Gruppen oder mit geistigen Behinderungen vor, und es werden Themen wie Stigmatisierung, Mobbing, geschiedene Familien und Auswanderung behandelt. Zwei der sechs Märchen in dem Buch handelten von Beziehungen und Eheschließungen zwischen Personen des gleichen Geschlechts. Kurz nach der Veröffentlichung wurde dem litauischen Kulturministerium eine Beschwerde zugeleitet, in der behauptet wurde, dass das Buch zu Perversionen anrege. Das Ministerium bat daraufhin die Aufsichtsbehörde für journalistische Ethik zu prüfen, ob das Buch für Kinder schädlich sein könnte. Etwa zur gleichen Zeit richteten acht Mitglieder des litauischen Parlaments ein Schreiben an die Universität, in dem sie die von Familienverbänden geäußerte Besorgnis über Literatur zum Ausdruck brachten, die „Kindern die Idee vermitteln soll, dass die Ehe zwischen Personen des gleichen Geschlechts ein willkommenes Phänomen sei“.

Die Aufsichtsbehörde kam zu dem Schluss, dass die beiden Märchen, in denen gleichgeschlechtliche Paare dargestellt werden, nicht mit dem litauischen Jugendschutzgesetz vereinbar seien. Dort heißt es u.a., dass jede Information, die „eine Verachtung der Familienwerte zum Ausdruck bringt“ oder „ein anderes Konzept von Ehe und Familiengründung als das in der Verfassung oder im Bürgerlichen Gesetzbuch verankerte“ fördert, als für Minderjährige schädlich angesehen wird. Die Aufsichtsbehörde empfahl, das Buch mit einer Warnung, es könne für Kinder unter 14 Jahren schädlich sein, zu versehen. Der Universitätsverlag stellte den Vertrieb des Buches zunächst für ein Jahr ein, bevor es entsprechend der Empfehlung der Aufsichtsbehörde mit einem Warnhinweis versehen erneut vertrieben wurde.

Rechtsmittel gegen die Universität vor den innerstaatlichen Gerichten blieben ohne Erfolg. Da erstmals ein Sachverhalt betreffend Beschränkungen für speziell für Kinder geschriebene Literatur über gleichgeschlechtliche Beziehungen vom EGMR zu beurteilen war, wurde die Beschwerde der Großen Kammer zugewiesen. Nach dem Tod der Beschwerdeführerin wurde die Beschwerde von ihrer Mutter an ihrer statt weiter verfolgt.

Die Gründe:
Einleitend hielt der EGMR fest, dass die vorübergehende Aussetzung des Vertriebs des Buches und seine anschließende Kennzeichnung mit einem Warnhinweis dem litauischen Staat zuzurechnen seien. Insbesondere seien die Maßnahmen von der Universität, einer öffentlichen Einrichtung, ergriffen worden, hätten sich unmittelbar aus den innerstaatlichen Rechtsvorschriften ergeben und seien von den nationalen Gerichten geprüft und bestätigt worden. Die Maßnahmen hätten auch in die Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin eingegriffen: Die Bücher seien aus den Buchhandlungen zurückgerufen worden, was ihre Verfügbarkeit für Leser verringert habe. Es sei auch wahrscheinlich, dass die Warnhinweise die Leserschaft verringert hätten: Eine beträchtliche Anzahl von Eltern mit Kindern aus der für das Buch vorgesehenen Altersgruppe habe davon abgehalten werden können, ihre Kinder das Buch lesen zu lassen, insbesondere in Anbetracht der in Litauen gehegten Vorurteile gegenüber der LGBTI-Gemeinschaft. Für Kinder über 14 Jahren wiederum seien Märchen im Allgemeinen weit weniger von Interesse. Darüber hinaus hätten sich die Warnhinweise auf den guten Ruf der Beschwerdeführerin als etablierter Kinderbuchautorin auswirken und sie und andere von der Veröffentlichung ähnlicher Literatur abhalten müssen.

Die Große Kammer wies das Argument der Regierung zurück, sie habe Kinder vor sexuell eindeutigen Informationen schützen wollen. Es sei insbesondere nicht zu erkennen, wie nach Auffassung der nationalen Gerichte und der Regierung bestimmte Passagen – eine Prinzessin und die Tochter eines Schuhmachers, die nach ihrer Hochzeit in den Armen des anderen schlafen – sexuell explizit gewesen sein sollen. Auch das Argument der Regierung, dass die Märchen darauf abzielten, verschiedengeschlechtliche Beziehungen zu beleidigen, zu entwürdigen oder herabzusetzen und dass das Buch gleichgeschlechtliche Familien gegenüber anderen fördere, überzeuge nicht. Die Märchen hätten sich im Gegenteil für die Achtung und Akzeptanz aller Mitglieder der Gesellschaft in einem grundlegenden Aspekt ihres Lebens, nämlich einer festen Beziehung, eingesetzt.

Ziel der Maßnahmen gegen das Buch der Beschwerdeführerin sei gewesen, so der Gerichtshof, den Zugang von Kindern zu Informationen zu beschränken, in denen gleichgeschlechtliche Beziehungen als im Wesentlichen gleichwertig mit andersgeschlechtlichen Beziehungen dargestellt werden. Ein solches Ziel sei nicht zuletzt aus der Gesetzgebungsgeschichte der fraglichen Vorschrift im Jugendschutzgesetz erkennbar, wonach der Zugang von Kindern zu Informationen über gleichgeschlechtliche Beziehungen zu beschränken sei.

Die Beschränkung des Zugangs von Kindern zu solchen Informationen verfolge vorliegend jedoch keine Ziele, die als legitim anzuerkennen sind: Der EGMR verwies diesbezüglich auf seine Rechtsprechung, in der er festgestellt hatte, dass es keine wissenschaftlichen Beweise dafür gebe, dass die bloße Erwähnung von Homosexualität oder die öffentliche Diskussion über den sozialen Status sexueller Minderheiten sich nachteilig auf Kinder auswirken würden. Dies sei auch von verschiedenen internationalen Gremien bestätigt worden. Zudem würden die Gesetze einer beträchtlichen Anzahl von Mitgliedstaaten des Europarats, darunter auch Litauen, entweder ausdrücklich die Aufklärung über gleichgeschlechtliche Beziehungen in die Lehrpläne aufnehmen oder Bestimmungen enthalten, die die Achtung der Vielfalt und das Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung im Unterricht sicherstellen.

Zudem zeige die Beschränkung des Zugangs von Kindern zu Informationen über gleichgeschlechtliche Beziehungen, sofern diese Informationen nicht aus anderen Gründen als der sexuellen Ausrichtung als unangemessen oder schädlich für sie angesehen werden können, dass die innerstaatlichen Behörden bestimmte Arten von Beziehungen und Familien gegenüber anderen bevorzugen und dass sie andersgeschlechtliche Beziehungen als gesellschaftlich akzeptabler und wertvoller ansehen als gleichgeschlechtliche Beziehungen. Dies trage zu einer anhaltenden Stigmatisierung bei. Daher seien solche Beschränkungen, auch wenn sie in ihrem Umfang und ihren Auswirkungen begrenzt sind, mit den Begriffen Gleichheit, Pluralismus und Toleranz, die einer demokratischen Gesellschaft eigen sind, unvereinbar.

Die Große Kammer des EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 22.02.2023 10:56
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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