Aktuell in der AfP

Wachsende Jugendmedienwelt, schrumpelnder Schutz – Defizite des Jugendmedienschutzes trotz Konvergenz (v. Lewinski, AfP 2023, 19)

Trotz aller tagespolitischen Instrumentalisierung ist der Jugendschutz zunehmend weit zu verstehen. Das Jugendschutzrecht und die Aufsicht sind zwar zersplittert, materiell aber konvergent. Gleichwohl gelingt es bislang nur schlecht, Kinder und Jugendliche vor gefährlichen Inhalten und gefährlichem Medienverhalten zu schützen. An verantwortungsvollem Elternhandeln und Medienkompetenz der ganzen Familie führt deshalb einstweilen kein Weg vorbei.

I. Herauswachsen aus dem Jugendmedienschutz
1. Veränderte Wahrnehmung von Sex und Gewalt
2. Mediennutzung statt bloßen Medienkonsums
3. Mediale Prosumer statt Sofakartoffeln
4. Grenzüberschreitende Mediennutzung
5. (Kein) unbeschriebener Start ins Erwachsenenleben
II. Ausgewachsenes Jugendschutzrecht und Konvergenz
1. Jugendschutzrecht
a) Verteilte Gesetzgebungskompetenzen
b) Maßstabskonvergenz bei Jugendgefährdung
aa) Jugendschutz als Verfassungsgut und Schranke anderer Grundrechte
bb) Vertypte Altersgrenzen
cc) Kategorisierung der Jugendgefährdung
c) Zunehmend vereinheitlichende internationale Vorgaben
2. Multiple und verzahnte Aufsichtsregeln
a) Kontrollinstitutionen
aa) Eltern
bb) Hoheitliche Aufsicht
(1) Bundesjugendmedienschutzaufsicht
(2) Landesmedienanstalten und KJM
(3) Freiwillige Selbstkontrolle und Selbstregulierung
b) Konvergenz der Aufsicht
III. Überalterung der heutigen Jugendschutzgeneration
1. Verstaubte administrative Listen
2. Tatteriger Schutz durch Technik
3. Gespenstische Zensurinfrastruktur
IV. Fazit: Wirksamer und staatsferner Jugendschutz bleibt Elternsache


I. Herauswachsen aus dem Jugendmedienschutz

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Medieninhalte können entwicklungsbeeinträchtigende Wirkung auf die kindliche Psyche haben, Traumata sowie Ängste auslösen oder schlicht zur Adaption von Verhaltensweisen führen. Die besondere Schutzbedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen folgt aus dem Umstand, dass der Mensch in den ersten Lebensphasen besonders verletzlich ist. Zweck von Jugendschutz ist insoweit, die kindliche Entwicklung hin zu einem autonomen Erwachsenen vor schädlichen Eindrücken zu bewahren. Solche Eindrücke werden in der Medien- und Informationsgesellschaft immer mehr, in der Kinder- wie in der Erwachsenenwelt, und damit wächst die Bedeutung und die Breite des Jugendmedienschutzes. Auf diese Veränderungen und Entwicklungen hat der heutige Jugendschutz noch nicht umfassend reagiert.

1. Veränderte Wahrnehmung von Sex und Gewalt
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Aus heutiger Sicht mag man schmunzeln über die Empörung, die bestimmte Medieninhalte in früheren Zeiten (z.B. Tizians Venus [1538] oder Courbets „L’Origin du monde“ [1866]) auslösten, oder darüber, dass das generelle und strafbewehrte (!) allgemeine Verbot von Pornographie erst Mitte der 1970er Jahre aufgehoben wurde. Auch wurden in der frühen Computerspielezeit Programme verboten, die nach heutigen Maßstäben ein harmloser Pixelbrei sind. Doch auch wenn man nun eine stärkere Präsenz von (früher) jugendgefährdenden Inhalten und eine weitergehende gesellschaftliche Akzeptanz konstatiert, hat sich doch nur die allgemeine Wahrnehmung von Inhalten als empörend verschoben, und es bedeutet nicht, dass die Gesellschaft oder gar die Menschheit insgesamt abgestumpft wäre. Das Empörungspotential ist heutzutage sicherlich nicht geringer geworden; so rufen (gesetzte oder auch nicht gesetzte) Gendersternchen mittlerweile teils ähnlichen Ärger hervor wie früher der Anblick nackter Brüste. Bemerkenswert ist aber, dass es bei Sex- und Gewaltdarstellungen nicht mehr so sehr die Handlung an sich ist, die verstört, sondern zunehmend die Rollen und Klischees, die zugeschrieben und reproduziert werden. Dagegen ist Gewalt gegen Tiere heute für Stadtbewohner kaum zu ertragen, während früher das Schlachtfest ein Freudentag auf dem Dorf war. Es bleibt beim Grundbefund und der biologischen und psychischen Notwendigkeit, dass Kinder und auch noch Jugendliche vor bestimmten Anblicken und Eindrücken geschützt werden müssen.

2. Mediennutzung statt bloßen Medienkonsums
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Jugendliche sind mit den „neuen“ Medien mindestens so vertraut wie Erwachsene. Doch führen diese Technologien auch zu neuen, anderen Risiken, die sich v.a. aus ihrer Nutzung ergeben.

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Während in der Zeit, bevor das Internet seinen Rückkanal entdeckte und zum „Internet 2.0“ wurde, der Fokus des Jugendschutzes v.a. auf den Medieninhalten und deren Zugänglichkeit lag, ergeben sich Risiken für Kinder und Jugendliche heute nicht mehr nur aus der Rezeption von Inhalten, sondern auch aus der sonstigen Nutzung eines Mediums. Kauffunktionen, glücksspielähnliche Mechanismen, die exzessive Mediennutzung fördern, insb. aber Kommunikations- und Kontaktfunktionen bergen Gefährdungspotential. Kinder und Jugendliche sind auch besonders empfänglich für Werbung von Influencern, die ob ihrer altermäßigen und emotionalen Nähe zu ihren Followern und ihrer vermeintlichen Offenheit bzgl. des eigenen Privatlebens ihnen übermäßig vertrauenswürdig erscheinen. Dazu kommt, dass es Kindern – abhängig vom Stand ihrer Entwicklung – oft nicht möglich ist, Werbung von redaktionellen Inhalten zu trennen.

3. Mediale Prosumer statt Sofakartoffeln
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Mediennutzer sind heute auch nicht mehr nur passive „Sofakartoffeln“. Kinder sind – wie Nutzer im Allgemeinen – nicht mehr nur Rezipienten, sondern (Medien-)Akteure. Das meint nicht nur die gute alte Schülerzeitung. Junge Menschen haben eigene Social Media-Accounts, machen Gebrauch von der Kommentarspalte, vernetzen sich via Onlinegames – stellen sich also dar. Spätestens seit Social Media und Videoplattformen ist es jedermann möglich, mit vergleichsweise geringem Aufwand eine Vielzahl von Personen zu erreichen. Deshalb kann der Jugendschutz auch nicht darauf reduziert werden, junge Menschen vor bestimmten Inhalten aus den Medien und vor bestimmten Verhaltensweisen im Internet zu schützen. Vielmehr ist die ganze Bandbreite medialer Rollen in den Blick zu nehmen. Zu denken ist hier neben dem altbekannten Konsum von Medieninhalten auch an die mediale Selbstdarstellung einschließlich der medialen Selbstbewahrung sowie an die journalistische Betätigung.

4. Grenzüberschreitende Mediennutzung
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Der Schutz von Kindern und Jugendlichen gehört zu den international und über alle Kulturgrenzen hinweg recht gut konsentierbaren Werten und Regelungszielen. Insoweit sind auch bei grenzüberschreitenden Kollisionslagen grundlegende Konflikte über die Frage der Schutzwürdigkeit von jungen Menschen (eigentlich) nicht zu erwarten. Doch betrifft dies nur die materielle Bewertung der Jugendgefährdung. In Verfahrens- oder Durchsetzungshinsicht sind Konflikte schon eher wahrscheinlich.

5. (Kein) unbeschriebener Start ins Erwachsenenleben
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In der modernen Kommunikationsgesellschaft kann man nicht nicht kommunizieren. So gehört es womöglich zur medialen Persönlichkeits(ab)bildung, dass manche Beiträge...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 17.03.2023 16:36
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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