EGMR v. 17.1.2023 - 39375/19

Recht auf wirksame Beschwerde - Litauen: Einstellung von Ermittlungen wegen homophober Äußerungen im Internet

Der EGMR bestätigt die neuere litauische Praxis der Bekämpfung und strafrechtlichen Verfolgung von Hassrede und Hassverbrechen. (Valaitis gegen Litauen)

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer hatte auf dem Internetportal einer großen litauischen Tageszeitung eine Leserzuschrift veröffentlicht, die sich auf einen Finalisten eines im Fernsehen übertragenen Gesangswettbewerbs bezog, der sich öffentlich als homosexuell geoutet hatte. In seinem pro-homosexuellen Beitrag bezeichnete der Beschwerdeführer homophobe Kommentatoren in Internetforen unter anderem als „ungebildete Drecksäcke, die in der Regel in Dörfern aufgewachsen sind, umgeben von intellektuell minderbemittelten Säufern, die irgendwo in ihren eigenen Hütten leben und am Wochenende mit ihren Dorfkameraden umherziehen, weil es für sie normal ist, ihre Meinungen und Gefühle auf diese Weise zu äußern“. Der Beitrag zog eine Reihe homophober Kommentare im selben Internetportal nach sich, die sich auch gegen den Beschwerdeführer persönlich richteten. Es wurden daher strafrechtliche Ermittlungen wegen Aufstachelung zu Hass und Diskriminierung eingeleitet, die jedoch unter Verweis auf das Urteil des litauischen Obersten Gerichtshofs in der ähnlich gelagerten Rechtssache Beizaras und Levickas eingestellt wurden. Nachdem der EGMR in diesem Urteil Verstöße gegen Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens) und gegen Art. 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) feststellte (EGMR v. 14.01.2020 – 41288/15), wurden die Ermittlungen neu aufgenommen. In Folge wurden einige der Verfasser der Kommentare identifiziert, aber wegen Kooperation mit den Behörden aus der strafrechtlichen Verantwortung entlassen, einige wurden unter Auflagen aus der strafrechtlichen Verantwortung entlassen, und einige Verdächtige wurden zwar identifiziert, ohne dass aber genügend Daten zum Beweis ihrer Schuld vorlagen. Eine Reihe von Kommentaren war von IP-Adressen im Ausland aus abgegeben worden, was die Identifizierung ihrer Verfasser unmöglich machte. Die Ermittlungen wurden daher in Bezug auf alle streitgegenständlichen Kommentare eingestellt bzw. ausgesetzt.

Die Gründe:
Der EGMR hielt fest, dass die streitgegenständlichen Kommentare so schwerwiegend gewesen seien, dass sie mit Blick auf den Beschwerdeführer den Schutzbereich des Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK betrafen.

Allerdings, so der Gerichtshof, hätten die litauischen Behörden im Anschluss an sein Urteil Beizaras und Levickas weitreichende und vielfältige Maßnahmen ergriffen, um die Fähigkeit des litauischen Strafrechtssystems zur Bewältigung von Hassreden und Hassverbrechen zu verbessern, und es sei ein entsprechender Mentalitätswandel in der litauischen Gesellschaft zu beobachten. In diesem Sinne seien die Entscheidung der litauischen Generalstaatsanwaltschaft, die Ermittlungen im Fall des Beschwerdeführers wieder aufzunehmen sowie ähnliche Entscheidungen in anderen Fällen von Hassreden in Litauen als Beweis für einen klaren und positiven Wandel in der Haltung der innerstaatlichen Behörden gegenüber der Verfolgung von Hassverbrechen zu werten. Jüngste Urteile des litauischen Obersten Gerichtshofs zeigten zudem die Existenz eines wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelfs für Beschwerden über homophobe Diskriminierung auf allen Ebenen der Rechtsprechung auf.

Mit Blick auf den konkreten Fall verwies der EGMR auf die Wiederaufnahme der innerstaatlichen Ermittlungen, die in hohem Maße unter Beachtung der und Verweis auf die vom Gerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung aufgestellten Voraussetzungen erfolgt sei: So sei nach Wiederaufnahme eine Reihe von Aspekten in die Ermittlungen eingeflossen, die zuvor nicht geprüft worden waren. Es sei auch berücksichtigt worden, dass nach Rechtsprechung des Gerichtshofs die schwersten Formen von Hassreden nicht in den Schutzbereich von Art. 10 EMRK fallen.

Dass die wieder aufgenommenen Ermittlungen im Fall des Beschwerdeführers aufgrund einer voreingenommenen Haltung der litauischen Behörden eingestellt oder ausgesetzt worden sind, war für den EGMR nicht ersichtlich. Auch wenn die Ermittlungen letztlich nicht dazu geführt hatten, dass die Personen, die die fraglichen hasserfüllten Äußerungen verfasst hatten, verurteilt oder gar angeklagt wurden, seien sie bei einer Gesamtbetrachtung nicht hinter den Anforderungen von Art. 13 EMRK zurückgeblieben.

In einer Gesamtschau sei die diskriminierende Haltung der litauischen Behörden, die der EGMR in seinem Urteil Beizaras und Levickas noch festgestellt hatte, nicht mehr erkennbar. Wirksame Abhilfemaßnahmen zur Verhütung, Aufdeckung und Verfolgung von Hassverbrechen könnten nunmehr durch die innerstaatliche Praxis erreicht werden.

Der EGMR verneinte mit 6:1 Stimmen eine Verletzung von Art. 13 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 20.03.2023 10:05
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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