EGMR v. 19.1.2023 - 383/12

Meinungsfreiheit - Aserbaidschan: Zivilrechtliche Haftung von Journalisten wegen übler Nachrede

Der EGMR rügt die aserbaidschanischen Gerichte wegen ihrer Bewertung zweier kritischer Zeitungsartikel. (Khural und Zeynalov gegen Aserbaidschan (Nr. 2))

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer sind Khural, eine zum streitgegenständlichen Zeitpunkt in Aserbaidschan erschienene Wochenzeitung, sowie einer ihrer Gründer und Chefredakteur. Nachdem Khural im Juli 2010 im Zuge einer Feier zum 135-jährigen Bestehen der nationalen Medien keine der vom Staatlichen Medienunterstützungsfonds an verschiedene Journalisten und Zeitungen vergebenen Zuwendungen von umgerechnet jeweils etwa 20.000 Euro erhielt, erschien in der Zeitung ein von ihrem Chefredakteur verfasster Artikel, in dem unter anderem der Exekutivdirektor des Fonds, S., dafür kritisiert wurde, dass die genannten Zuwendungen in diskriminierender Weise vergeben worden seien. In einem zweiten Artikel auf derselben Seite wurden die Vorwürfe weiter substantiiert. Daraufhin erhob S. Zivilklage gegen Khural und machte geltend, der erste Artikel enthalte falsche und beleidigende Äußerungen, die seine Ehre, seine Würde und seinen guten Ruf verletzten. Der Klage wurde teilweise stattgegeben. Khural wurde zur Zahlung immateriellen Schadensersatzes von umgerechnet 500 Euro, ihr Chefredakteur zur Äußerung einer Entschuldigung und Widerruf der fraglichen Aussagen verurteilt. Von S. eingelegte Rechtsmittel führten zu einer Erhöhung des Schadensersatzes auf umgerechnet 5.000 Euro; sämtliche Rechtsmittel der Beschwerdeführer blieben erfolglos. Die Beschwerdeführer haben weder eine Entschuldigung veröffentlicht noch den angeordneten Schadensersatz gezahlt. Daraufhin wurden Vermögenswerte Khurals (wie Computer, Drucker und Telefone) aufgrund gerichtlichen Beschlusses beschlagnahmt, woraufhin Khural die Print-Veröffentlichung, nicht aber auch die Online-Version, einstellte. Ihr Chefredakteur wurde wegen der Nichtbefolgung der Gerichtsurteile strafrechtlich verurteilt (Gegenstand von Avaz Zeynalov gegen Aserbaidschan, EGMR v. 22.04.2021 – 37816/12 und 25260/14).

Die Gründe:
Der EGMR hielt einleitend fest, dass das zivilrechtliche Verleumdungsverfahren gegen die Beschwerdeführer und die daraus resultierenden Sanktionen eine Beeinträchtigung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung darstellten, die gesetzlich vorgesehen im Sinne des Art. 10 EMRK war und das legitime Ziel verfolgte, die Persönlichkeitsrechte und den guten Ruf von S. zu schützen.

Unter Verweis auf die in seiner ständigen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zum Schutz des guten Rufs und für den Inhalt, die Form und die Folgen einer Veröffentlichung stellte der EGMR fest, dass die in den Artikeln verwendeten Ausdrücke (etwa die Bezeichnung von S. als „Schlächter“ im Bereich der Presse und seiner Handlungen als „Presseschande“, „Pressesittenlosigkeit“ und „Presseschurkerei“ sowie dem Vergleich dieser Handlungen mit der „Mafia“) und der dort erfolgte Vorwurf eines nach innerstaatlichem Recht potentiell als unprofessionell, unethisch, unehrlich oder sogar kriminell angesehen Verhaltens, nicht nur geeignet waren, den guten Ruf des S. zu schädigen, sondern ihm auch in seinem beruflichen und sozialen Umfeld Schaden zuzufügen. Die Anschuldigungen hätten daher einen Schweregrad erreicht, der ausreiche, um seine Ehre, seine Würde und seinen guten Ruf im Sinne von Art. 8 EMRK zu beeinträchtigen.

Allerdings seien die streitgegenständlichen Äußerungen bei ihrer Bewertung durch die innerstaatlichen Gerichte aus ihrem Kontext gerissen worden und es sei nicht geprüft worden, ob es sich bei ihnen um Werturteile handeln könnte und, wenn ja, ob sie eine ausreichende Tatsachengrundlage hatten. Vielmehr hätten die innerstaatlichen Gerichte lediglich geprüft, ob die Äußerungen geeignet waren, S. psychisches Leid zuzufügen und seine Persönlichkeitsrechte und seinen guten Ruf zu schädigen. Auch hätten die innerstaatlichen Gerichte es versäumt, andere relevante Erwägungen wie die Rolle der Beschwerdeführer als Zeitung bzw. Journalist und den Status des Klägers im Ausgangsverfahren, eines hochrangigen Beamten, zu berücksichtigen und zu analysieren. Demnach vermochte sich der EGMR ihren Erwägungen und Schlussfolgerungen nicht anzuschließen. In Anbetracht des gesamten Inhalts der beiden Artikel und der von den Beschwerdeführern vor den innerstaatlichen Gerichten abgegebenen Erklärungen und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die journalistische Freiheit auch die Möglichkeit umfasse, zu einer gewissen Übertreibung oder sogar Provokation zu greifen, sich also in gewissem Maße maßlos zu äußern, stellten die fraglichen Äußerungen eine wenn auch provokative sowie bissig und vulgär formulierte Meinung dar. Sie hätten nämlich die subjektive Bewertung des Chefredakteurs zum streitgegenständlichen Sachverhalt dargestellt, womit es sich eher um Werturteile als um Tatsachenbehauptungen handele.

Auch sei es nicht darum gegangen, S. grundlos zu diffamieren. Vielmehr hätten sich die Äußerungen gegen ihn in seiner Funktion als Exekutivdirektor des Staatlichen Medienunterstützungsfonds gerichtet. Die in den Artikeln dargelegten Tatsachenbehauptungen als Grundlage der geäußerten Meinung akzeptierte der EGMR – obgleich er ihren Wahrheitsgehalt nicht selbst beurteilen könne – als ausreichend: Die Beschwerdeführer seien darauf bedacht gewesen, die beanstandeten Äußerungen in einen Zusammenhang zu stellen und zu erläutern. Sie hätten sich in angemessener Weise darum bemüht, klar zu formulieren, warum die Art und Weise, in der die fraglichen finanziellen Zuwendungen angeblich verwaltet wurden, ihrer Ansicht nach eine so heftige Reaktion ihrerseits verdiente. Da es um Gelder aus dem Staatshaushalt und die Unterstützung von Medienunternehmen ging, seien die beanstandeten Äußerungen auch im Rahmen einer Debatte von hohem öffentlichem Interesse erfolgt.

Somit hätten die innerstaatlichen Gerichte es versäumt, einen gerechten Ausgleich zwischen der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführer und den Rechten und Interessen von S. zu schaffen, Maßstäbe anzuwenden, die mit den in Art. 10 EMRK verankerten Grundsätzen in Einklang stehen, sich auf eine vertretbare Würdigung der relevanten Tatsachen zu stützen und ihre Entscheidungen auf sachgerechte und ausreichende Gründe zu stützen.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 20.03.2023 10:04
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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