EGMR v. 23.3.2023 -46396/14

Meinungsfreiheit - Ukraine: Gutgläubige Angaben einer Augenzeugin eines Verkehrsunfalls gegenüber einem Journalisten

Zeugen von möglicherweise strafbaren Handlungen müssen in der Lage sein, nach Treu und Glauben öffentlich wiedergeben zu können, was sie unmittelbar beobachtet haben, sofern sie nicht durch die Geheimhaltung der Ermittlungen gebunden sind. (Udovychenko gegen Ukraine)

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin war Augenzeugin eines Verkehrsunfalls, bei dem eine Fußgängerin schwer verletzt wurde. Der Vorfall wurde von Medien auf lokaler Ebene aufgegriffen. Gegenüber einem Journalisten gab die Beschwerdeführerin an, sie habe gesehen, wie M.B., Lokalpolitiker und Sohn des ehemaligen ukrainischen Parlamentsmitglieds B., auf der Fahrerseite des Unfallwagens ausgestiegen sei. Tatsächlich stellte die Polizei fest, dass eine andere Person das in den Unfall verwickelte Auto gefahren hatte. M.B. und B. und strengten daraufhin ein Zivilverfahren gegen die Beschwerdeführerin an, in dem sie beschuldigt wurde, gegenüber den Medien eine Falschaussage gemacht zu haben, mit der M.B. die Verursachung des Unfalls unterstellt wurde. In dem Verfahren war die Beschwerdeführerin gehalten, ihre Aussage zu beweisen. In Ermangelung von Beweisen stellten die ukrainischen Gerichte fest, dass ihre Aussage als unwahr einzustufen war und die Ehre, die Würde und den Ruf von M.B. und B. verletzt hatte. Sie wurde dazu verurteilt, ihre Aussage zu widerrufen und Schadenersatz in Höhe von rund 9.790 Euro zu zahlen. Alle Rechtsmittel gegen diese Entscheidung waren erfolglos. Im Februar 2013 widerrief die Beschwerdeführerin ihre Aussage. Die Zahlung des Schadensersatzes wurde zwischen 2012 und 2018 vollstreckt, wobei Gerichtsvollzieher ihr Eigentum pfändeten und monatlich 20 % ihres Gehalts einbehalten wurde, um die Schulden zu begleichen. Außerdem wurde ihr untersagt, die Ukraine zu verlassen, bis sie den Ersatz in voller Höhe gezahlt hatte.

Die Gründe:
Der EGMR stimmte zunächst mit den ukrainischen Gerichten darin überein, dass die Bemerkung der Beschwerdeführerin, M.B. sei aus der Fahrerseite des Unfallwagens ausgestiegen, als eine Tatsachenbehauptung angesehen werden könne. Diese habe eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse betroffen.

Bei den Angaben der Beschwerdeführerin handele es sich um eine Aussage über ihre persönliche Wahrnehmung dessen, was sie am Unfallort gesehen hatte. Diese sei von der Beschwerdeführerin in ihrer Eigenschaft als Augenzeugin gemacht worden und habe nichts anderes als eine unmittelbare Schilderung eines der tatsächlichen Umstände des Verkehrsunfalls dargestellt. Dieses Element unterscheide den vorliegenden Fall von anderen vom Gerichtshof geprüften Fällen, die die Meinungsfreiheit betrafen und in denen sich die Tatsachenbehauptungen der Beschwerdeführer, hauptsächlich Journalisten, nicht auf das beschränkt hätten, was sie unmittelbar erlebt hatten. Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles habe von der Beschwerdeführerin der Beweis, dass das, was sie mit eigenen Augen gesehen zu haben glaubte, tatsächlich stattgefunden hat, nicht erwartet werden können.

Es sei für die Beschwerdeführerin nämlich sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich gewesen, einen solchen Beweis zu erbringen, wie er von den nationalen Gerichten verlangt wurde. Zudem habe es nie Anhaltspunkte dafür gegeben, dass es die Beschwerdeführerin an der gebotenen Sorgfalt hatte fehlen lassen und bösgläubig gehandelt hatte, als sie ihre Aussage machte. Weder die Kläger im innerstaatlichen Verfahren noch die Gerichte hätten behauptet, dass die Beschwerdeführerin absichtlich gelogen habe, um den guten Ruf von B. und M.B. zu schädigen. Sie habe keine beleidigenden oder abfälligen Bemerkungen über die Kläger gemacht, sondern lediglich berichtet, was sie gesehen hatte, ohne zur Schuld einer Person Stellung zu nehmen. Auch sei sie von den Behörden nicht wegen Falschaussage angeklagt worden, und es sei auch nicht behauptet worden, dass sie vertrauliche Informationen über die laufenden Ermittlungen preisgegeben habe. Es sei ein wichtiger Aspekt des Schutzes der Meinungsfreiheit, dass Zeugen von Ereignissen, die möglicherweise strafbare Handlungen darstellen, nach Treu und Glauben öffentlich wiedergeben können, was sie unmittelbar beobachtet haben, sofern sie nicht durch die Geheimhaltung der Ermittlungen gebunden sind. Eine Beweispflicht wie vorliegend gefordert sei bei Gutgläubigkeit nicht mit den Grundsätzen der Rechtsprechung des Gerichtshofs vereinbar.

Letztlich seien die Folgen für die Beschwerdeführerin schwerwiegend gewesen. So habe sie über mehrere Jahre hinweg einen im Vergleich zu ihrem Gehalt erheblichen Schadensersatz leisten müssen und sei in dieser Zeit mit einem Auslandsreiseverbot belegt worden. Eine Rechtfertigung dafür vermochte der EGMR nicht zu erkennen. Die Beeinträchtigung des Rechts der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung sei daher in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.04.2023 16:40
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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