EGMR v. 6.4.2023 - 15158/19

Meinungsfreiheit - Polen: Verbot des Zugangs zum Parlament wegen des Zeigens eines Transparents

Das Verbot, das Parlamentsgelände und -gebäude ein Jahr lang zu betreten, stellt wegen eines Mangels an Verfahrensgarantien einen Verstoß gegen die Meinungsfreiheit dar. (Drozd gegen Polen)

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer sind Mitglieder der informellen Bürgerbewegung „Obywatele RP“ („Bürger der Republik Polen“), die sich an politischen Protesten beteiligt. Im Sommer 2017 war es in Polen zu einer Reihe solcher Proteste gegen geplante Reformen des Justizwesens gekommen, in deren Zuge auch die Beschwerdeführer an einer friedlichen Demonstration vor dem Sejm, der ersten Kammer des polnischen Parlaments, teilnahmen. Sie erhielten Besucherausweise für den Sejm, um die Parlamentsdebatte zu verfolgen. Sobald sie durch das Eingangstor auf das Gelände gegangen waren, entrollten sie ein Transparent mit dem Slogan „Verteidigt unabhängige Gerichte“. Sie wurden sofort vom Gelände geführt, und ihre Besucherausweise wurden ihnen abgenommen. Der Leiter des Sicherheitsdienstes des Parlaments untersagte ihnen daraufhin für ein Jahr das Betreten des Geländes. Ihre Einsprüche gegen das Verbot, das ihrer Ansicht nach ihr Recht auf Zugang zu öffentlichen Informationen einschränkte, wurden abgewiesen, weil der Leiter des Sicherheitsdienstes des Parlaments keine Verwaltungsbehörde sei und seine Entscheidungen nicht vor den Verwaltungsgerichten angefochten werden könnten.

Die Gründe:
Der EGMR bejahte eingangs einen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführer auf freie Meinungsäußerung: Das Verbot, die Gebäude und das Gelände des Sejm zu betreten, habe sie daran gehindert, sich aus erster Hand über die Tätigkeit der Organe der öffentlichen Verwaltung informieren zu können. Dieses Verbot habe eine Grundlage im innerstaatlichen Recht, nämlich in einer Bestimmung der Präsidialverordnung des Sejm, und ziele darauf ab, jegliche Störung der Arbeit des Sejm zu verhindern.

Allerdings sei es legitim, dass sich die Öffentlichkeit aus erster Hand und unmittelbar über die Ereignisse und Debatten im Sejm informieren wolle. Es müsse daher eine Abwägung zwischen dem Bedürfnis des Parlaments, einen geordneten Ablauf der parlamentarischen Arbeit aufrechtzuerhalten und dem Bedürfnis der Öffentlichkeit, Informationen aus erster Hand über ein wichtiges gesellschaftliches Thema zu erhalten, vorgenommen werden.

Der Gerichtshof vertrat die Auffassung, dass zwischen dem beschwerdegegenständlichen Vorfall, der sich außerhalb des Sejm-Gebäudes ereignet hatte, und Vorfällen innerhalb des Gebäudes, die den ordnungsgemäßen Ablauf der parlamentarischen Debatte unmittelbar beeinträchtigen, unterschieden werden müsse. Ob die Beschwerdeführer tatsächlich den Verkehr innerhalb des Sejm-Geländes gestört hatten, wie von der Regierung behauptet und von den Beschwerdeführern bestritten, vermochte der EGMR nicht festzustellen. Aber selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, sei es wichtig zu prüfen, ob irgendwelche Vorkehrungen getroffen worden waren, um sicherzustellen, dass das Verbot gegen die Beschwerdeführer nicht willkürlich ausgesprochen wurde.

Zwar enthalte die Präsidialverordnung des Parlaments eine Bestimmung, die das Verbot des Zugangs zu den Gebäuden und dem Gelände „in begründeten Fällen zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung und zur Gewährleistung der Sicherheit des Sejm und des Senats [zweite Kammer des polnischen Parlaments]“ vorsieht. Allerdings gebe es in dieser Bestimmung keine Möglichkeit für die sanktionierte Person, Argumente zu ihrer Verteidigung vorzubringen. So sei im Fall der Beschwerdeführer lediglich ein Schreiben des Leiters des Parlamentarischen Sicherheitsdienstes zugestellt worden, in dem ihnen mitgeteilt wurde, dass ihnen der Zutritt zum Sejm für ein Jahr untersagt sei. Weiterhin habe die Präsidialverordnung kein konkretes Verfahren zur Anfechtung der Maßnahme vorgesehen.

Folglich vertrat der Gerichtshof die Auffassung, dass das Verbot ohne jegliche Verfahrensgarantien verhängt worden war. Die Beeinträchtigung des Rechts der Beschwerdeführer auf freie Meinungsäußerung sei somit nicht „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ gewesen.

Der EGMR bejahte demnach einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 22.05.2023 10:48
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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