EGMR v. 21.11.2023 - 29356/19 und 31119/19

Versammlungs- und Meinungsfreiheit - Russland: Einschränkung des Ortes öffentlicher Protestveranstaltungen

Behördlich vorgeschlagene alternative Versammlungsorte müssen geeignet sein, einer Versammlung nennenswerte Wirkung zu geben. (Pleshkov u.a. gegen Russland)

Der Sachverhalt:
Den Beschwerden lagen behördliche Beschränkungen mit Blick auf den Ort geplanter öffentlicher Veranstaltungen zugrunde. Der Beschwerdeführer in 29356/19 erhielt keine Genehmigung, am 11. Oktober 2018 vor dem Gebäude der Staatsduma, dem Unterhaus des russischen Parlaments, im Zentrum Moskaus einen dreistündigen Protest mit etwa 20 Teilnehmern gegen die kurz zuvor beschlossene Erhöhung des Renteneintrittsalters zu organisieren. Die Beschwerde 31119/19 hatte das Verbot einer dreistündigen öffentlichen Veranstaltung von Menschenrechtsaktivisten mit etwa 1.000 erwarteten Teilnehmern am 22. Dezember 2018 auf dem Puschkin-Platz im Zentrum Moskaus zum Gegenstand. Die Aktivisten wollten dort den Jahrestag des ersten politischen Protests der Nachkriegszeit, der dort im Dezember 1965 stattfand, begehen und in diesem Rahmen die Behörden auffordern, das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu achten. Die Behörden schlugen alternative Orte für beide Veranstaltungen vor. In beiden Fällen blieben eingelegte Rechtsmittel erfolglos.

Die Gründe:
Der EGMR prüfte die Vereinbarkeit der Sachverhalte mit Art. 11 EMRK (Versammlungsfreiheit) im Lichte des Art. 10 EMRK (Meinungsfreiheit). Er stellte fest, dass die Weigerung, die von den Beschwerdeführern für ihre öffentlichen Veranstaltungen gewählten Orte zu genehmigen, vordergründig mit der Sorge um die öffentliche Sicherheit und dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer begründet worden war. Eine solche Ablehnung müsse jedoch klar und substantiiert begründet werden. Das Recht, sich friedlich zu versammeln, sei eine der Grundlagen jeder demokratischen Gesellschaft, und nur überzeugende und zwingende Gründe könnten eine Beeinträchtigung dieses Rechts rechtfertigen.

Mit Blick auf die Beschwerde 29356/19 hielt der EGMR fest, dass die innerstaatlichen Gerichte die Rechte des Beschwerdeführers als Veranstalter gegen die von den Behörden vorgebrachten Erwägungen des öffentlichen Interesses – nämlich die Verkehrssicherheit – hätten abwägen müssen. Jede Demonstration an einem öffentlichen Ort könne ein gewisses Maß an Beeinträchtigung des normalen Lebens, einschließlich des Verkehrs, verursachen. Der kategorische Ausschluss eines so bedeutenden Ortes wie den Vorplatz des Parlaments als aus Sicherheitsgründen für eine öffentliche Veranstaltung ungeeignet bedürfe einer stichhaltigen Begründung seitens der innerstaatlichen Behörden und Gerichte. Warum es einer Gruppe von 20 Personen nicht möglich sei, vor dem Gebäude der Staatsduma zu demonstrieren, sei jedoch nicht geprüft und ebenso wenig dargelegt worden, inwiefern Sicherheitsbedenken die Interessen des Beschwerdeführers eindeutig überwogen. Auch sei nicht geprüft worden, ob der angebotene alternative Veranstaltungsort dem Protest eine nennenswerte Wirkung verliehen hätte. Die Behörden hätten sicherstellen müssen, dass am alternativen Ort die Durchführung der Veranstaltung weiterhin in Sicht- und Hörweite des Zielpublikums möglich sei. Die innerstaatlichen Gerichte hätten jedoch der Bedeutung des vorgesehenen Veranstaltungsortes wenig Beachtung geschenkt und stattdessen lediglich festgestellt, dass ein alternativer, der Öffentlichkeit zugänglicher Ort angeboten worden sei.

Hinsichtlich der Beschwerde 31119/19 stellte der EGMR fest, dass die Behörden – bestätigt durch die innerstaatlichen Gerichte – die bereits auf dem Puschkin-Platz geplanten Neujahrsfeiern als Grund für die Ablehnung des Antrags der Beschwerdeführer angegeben hatten. Ohne Einzelheiten wie die erwartete Teilnehmerzahl an diesen Feiern oder die Gründe dafür zu nennen, warum der zur Verfügung stehende Platz für beide Veranstaltungen zu klein sei, sei seitens der Behörden und Gerichte argumentiert worden, dass die gleichzeitige Durchführung von zwei Veranstaltungen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. In diesem Zusammenhang wies der EGMR darauf hin, dass es nicht ungewöhnlich sei, dass zur Vermeidung der mit einer Überfüllung verbundenen Gefahren Beschränkungen hinsichtlich des Ortes, des Datums, der Zeit, der Form oder der Art und Weise der Durchführung einer geplanten öffentlichen Versammlung auferlegt werden, insbesondere wenn Veranstaltungen für denselben Ort und dieselbe Zeit geplant würden. Dies dürfe jedoch nicht als Rechtfertigung für ein pauschales Verbot der Abhaltung von mehr als einer Versammlung am selben Ort und zur selben Zeit dienen, wenn keine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit besteht. Vorliegend sei durch die innerstaatlichen Behörden weder eine geschätzte Teilnehmerzahl für die Neujahrsfeierlichkeiten noch die Gesamtkapazität des vorgesehenen Veranstaltungsortes angegeben worden. Weder seien ernsthafte Anstrengungen unternommen worden, um Möglichkeiten für die Unterbringung beider Veranstaltungen auf dem Puschkin-Platz zu erkunden, noch hätten die Behörden einen geeigneten alternativen Ort vorgeschlagen, um die beabsichtigte Botschaft der geplanten Demonstration in Anbetracht des Zielpublikums und der Tatsache, dass der alternativ vorgeschlagene Ort acht Kilometer entfernt und weniger frequentiert war, wirksam vermitteln zu können. Somit hätten die nationalen Behörden und Gerichte keine stichhaltigen und ausreichenden Gründe angeführt, um die den Beschwerdeführern auferlegten Beschränkungen bei der Ausübung ihres Rechts auf Versammlungsfreiheit zu rechtfertigen.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 11 EMRK im Lichte des Art. 10 EMRK hinsichtlich aller Beschwerdeführer.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 20.12.2023 09:48
Quelle: Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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