EGMR v. 18.1.2024 - 20725/20

Meinungsfreiheit - Frankreich: Strafrechtliche Verurteilung wegen öffentlicher Verleumdung

Personen, die behaupten, psychisch oder sexuell belästigt worden zu sein, ist angemessener Schutz im Einklang mit Art. 10 EMRK zu gewähren. (Allée gegen Frankreich)

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin war zum beschwerdegegenständlichen Zeitpunkt als Sekretärin bei einem religiösen Bildungsträger angestellt, wo sie im Rahmen ihrer Aufgaben mit A., dem damaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Trägers, zusammenarbeitete. Da sie sich von diesem belästigt fühlte, bat sie im Juli 2015 Ar., den Sohn von A. und geistlichen Leiter des Vereins, um eine Versetzung in eine andere Position. Nachdem die Bitte erfolglos blieb, trat B., der Ehemann der Beschwerdeführerin, auf deren Wunsch hin im Juni 2016 per SMS mit der Behauptung, A. habe seine Frau belästigt und sexuell genötigt, und der Bitte einzuschreiten, an Ar. und den Geschäftsführer des Trägers heran. Letzterer schlug daraufhin der Beschwerdeführerin vor, sich so lange krankschreiben zu lassen, bis ihr Vertrag in gegenseitigem Einvernehmen aufgelöst oder eine neue Verwendung für sie gefunden werden könne. Im Folgenden schickte die Beschwerdeführerin eine E-Mail mit dem Betreff „Sexueller Übergriff, sexuelle und psychische Belästigung“ an den Geschäftsführer, mit Kopien an die staatliche Arbeitsaufsichtsbehörde, B., Ar., A. und einen weiteren Sohn von A. Daraufhin wiederholte der Geschäftsführer seinen ursprünglichen Vorschlag. Wenig später postete B. eine Nachricht auf der Facebook-Pinnwand eines Bekannten, in der er die Anschuldigungen seiner Frau wiederholte und die Situation als „Sexskandal“ bezeichnete. Die Nachricht erwähnte die Familie A. und den Bildungsträger und zog eine Reihe scharf formulierter Kommentare nach sich.

Im August 2016 reichte A. beim Pariser Strafgericht eine Privatklage gegen die Beschwerdeführerin und B. ein, in der er ihnen öffentliche Diffamierung vorwarf. Das Gericht befand daraufhin die Beschwerdeführerin und B. wegen der von der Beschwerdeführerin versendeten E-Mail der öffentlichen Verleumdung einer Privatperson für schuldig und verurteilte die Beschwerdeführerin zur Zahlung einer Geldstrafe in Höhe von 1.000 Euro auf Bewährung und zur Zahlung des symbolischen Betrags von einem Euro an A. – entsprechend dem Antrag des A. – sowie eines Betrags von 2.000 Euro für die Prozesskosten, die sie gesamtschuldnerisch mit B. zu tragen hatte. Die Beschwerdeführerin legte gegen das Urteil Berufung ein, woraufhin die Geldstrafe halbiert wurde. Rechtsmittel zum Kassationsgericht unter Berufung insbesondere auf Art. 10 EMRK und das „Whistleblowing-Recht“ nach dem französischen Arbeitsrecht blieben erfolglos und resultierten in der Anordnung, die Prozesskosten vor dem Kassationsgericht in Höhe von 2.500 Euro zu zahlen.

Die Gründe:
Die E-Mail, wegen der die Beschwerdeführerin strafrechtlich verurteilt wurde, sei in einer angespannten Situation versandt worden war, in der sich ihr Arbeits- und Privatleben vermischt hätten. Die Nachricht sei an lediglich sechs Personen geschickt worden, von denen nur eine – der nicht involvierte Sohn des A. – eine externe Partei gewesen sei. Alle anderen Empfänger seien entweder involviert gewesen oder hätten eine Position innegehabt, die sie dazu berechtigte, Berichte über Belästigungen zu erhalten. Die E-Mail sei also an eine begrenzte Anzahl von Personen geschickt worden und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen. Ihr einziger Zweck sei es gewesen, die Empfänger auf die Situation der Beschwerdeführerin aufmerksam zu machen, um eine Möglichkeit zu finden, diese zu beenden. Die E-Mail sei somit nicht als öffentliche E-Mail zu bewerten und habe nur geringe Auswirkungen auf den guten Ruf des A. gehabt. Die gegenteilige Bewertung durch die innerstaatlichen Gerichte empfand der EGMR als zu restriktiv. Es sei vielmehr die von B. gepostete Facebook-Nachricht – die nicht Gegenstand der Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten gewesen war – gewesen, die zu hitzigen Diskussionen geführt und die Angelegenheit an die Öffentlichkeit gebracht hatte.

Weiterhin habe die Beschwerdeführerin in ihrer Eigenschaft als angebliches Opfer der von ihr beanstandeten Handlungen gehandelt; bei dem Inhalt der E-Mail habe es sich um Tatsachenbehauptungen gehandelt. Auch private Dokumente, die an einen begrenzten Personenkreis verbreitet werden, müssten eine Tatsachengrundlage haben, die umso stärker sein müsse, je schwerwiegender die Anschuldigung ist. Vorliegend seien die beanstandeten Handlungen in Abwesenheit von Zeugen begangen worden. Das Versäumnis der Beschwerdeführerin, diese Handlungen bei den Strafverfolgungsbehörden anzuzeigen, könne nicht als Beweis für ihre Unredlichkeit herangezogen werden. Unter Hinweis auf die mit Art. 10 EMRK einhergehende Notwendigkeit, Personen, die behaupten, Opfer von Mobbing oder sexueller Belästigung geworden zu sein, einen angemessenen Schutz zu gewähren, vertrat der EGMR die Auffassung, dass die Weigerung der innerstaatlichen Gerichte, vorliegend den Begriff der ausreichenden Tatsachengrundlage und die Kriterien für die Beurteilung der Redlichkeit an die Umstände des Falles anzupassen, der Beschwerdeführerin eine übermäßige Beweislast auferlegt habe, indem von ihr die Vorlage von Beweisen für die Handlungen, die sie aufzeigen wollte, verlangt wurde.

Abschließend befand der EGMR, dass die gegen die Beschwerdeführerin verhängte Geldstrafe zwar nicht als schwerwiegend angesehen werden könne, die Beschwerdeführerin aber nichtsdestotrotz wegen einer Straftat verurteilt worden sei. Eine solche Verurteilung habe naturgemäß eine abschreckende Wirkung, die Menschen davon abhalten könnte, so schwerwiegende Handlungen wie Mobbing, sexuelle Belästigung oder sogar sexuelle Übergriffe zu melden.

Somit habe zwischen der Einschränkung des Rechts der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung und dem verfolgten legitimen Ziel kein angemessenes Verhältnis bestanden.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.01.2024 11:45
Quelle: Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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