EGMR v. 30.1.2024 - 34358/16 u. 58535/16

Recht auf Leben - Russland: Morde an Journalisten

Der Status des Journalisten begründet eine zusätzliche Verpflichtung für die innerstaatlichen Behörden, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um Schutz und Sicherheit zu gewährleisten. (Akhmednabiyev und Kamalov gegen Russland)

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer in der Beschwerde 34358/16 ist der Sohn von Akhmednabi Akhmednabiyev (A.), einem am 9.7.2013 ermordeten russischen Journalisten. Der Beschwerdeführer in der Beschwerde 58535/16 ist der Onkel von Khadzhimurad Kamalov (K.), einem russischen Journalisten, der am 15.12.2011 ermordet wurde.

Im September 2009 verteilten Unbekannte an verschiedenen Orten in der Stadt Machatschkala in der russischen Republik Dagestan Flugblätter, in denen sie mehreren Journalisten, Menschenrechtsverteidigern und Anwälten mit dem Tod drohten, darunter A., damals stellvertretender Redakteur einer regionalen Tageszeitung und Korrespondent einer Nachrichten-Website, sowie K., Gründer und Herausgeber einer regionalen Zeitung. Strafrechtliche Ermittlungen wegen des Flugblatts blieben erfolglos.

Im Januar 2013 wurde ein Anschlag auf A. verübt, den er unverletzt überlebte; auch hier blieben Ermittlungen erfolglos. Im Juli 2013 fiel A. einem erneuten Anschlag zum Opfer; die Ermittlungen in dem Fall verliefen im Sande. K. wurde im Dezember 2011 erschossen. In diesem Fall wurden vier Tatverdächtige im Jahr 2022 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

Die Beschwerdeführer rügten eine Verletzung von Art. 2 (Recht auf Leben) und 10 EMRK.

Die Gründe:
Hinsichtlich der Ermittlungen durch die innerstaatlichen Behörden zum Mord an A. (Beschwerde 34358/16) kam der EGMR zu dem Schluss, dass sie nicht ausreichend gewesen waren. Die Ermittlungen hätten bislang mehr als neun Jahre gedauert. Sie seien mehrfach ausgesetzt und erforderliche Maßnahmen, insbesondere die Einholung eines ballistischen Gutachtens, wegen mangelnder Kooperation der zuständigen Behörden nicht unverzüglich ergriffen worden. Die übermäßige Dauer eines Verfahrens sei ein starker Anhaltspunkt dafür, dass das Verfahren so mangelhaft ist, dass es einen Verstoß gegen die positiven Verpflichtungen des beklagten Staates aus der EMRK darstellt, es sei denn, der Staat trägt sehr überzeugende und plausible Gründe zur Rechtfertigung der Verfahrensdauer vor, was vorliegend nicht der Fall sei. Auch seien die Ermittlungsbehörden Anhaltspunkten zu einer potentiell in den Mord verwickelten Person nicht nachgegangen. Zudem sei der Beschwerdeführer in der A. betreffenden Beschwerde nicht regelmäßig über den Fortgang der Ermittlungen informiert worden, obwohl er versucht habe, solche Informationen zu erhalten.

Auch mit Blick auf die Ermittlungen zum Mord an K. (Beschwerde 58535/16) befand der EGMR insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Beschwerdeführer in der K. betreffenden Beschwerde keine Gelegenheit gehabt habe, sich an den Ermittlungen zu beteiligen und keinen Zugang zu den Akten gehabt habe, dass sie nicht den Anforderungen von Art. 2 EMRK entsprachen. Die Ermittlungen hätten sich zudem ebenfalls ungerechtfertigt in die Länge gezogen. Die letztendliche Verurteilung von vier Personen wegen des Mordes führe zu keinem anderen Ergebnis.

Hinsichtlich der positiven Verpflichtungen der Staaten aus Art. 2 EMRK hielt der EGMR im Zusammenhang mit dem Mord an A. (Beschwerde 34358/16) fest, dass Russland seiner Verpflichtung, geeignete Maßnahmen zum Schutz des Lebens von A. zu ergreifen, nicht nachgekommen war. Die innerstaatlichen Behörden seien über die Morddrohungen an A. informiert gewesen. Offenkundig sei aber eine Bewertung, ob diese Drohungen ein reelles und unmittelbares Risiko für das Leben von A. darstellen, unterblieben. Insbesondere sei nach dem ersten Anschlag auf A. im Januar 2013 trotz dessen offensichtlich lebensbedrohlichen Charakters keine Risikobewertung durch die Ermittlungsbehörden vorgenommen worden, die sich überdies hartnäckig geweigert hätten, den Angriff als lebensbedrohlich zu bewerten, ungeachtet von Gerichtsentscheidungen und der ausdrücklichen Anweisungen der Staatsanwaltschaft in diesem Sinne. A. habe bei seiner Befragung als Opfer nach dem gescheiterten Angriff auf eine mögliche Quelle der Bedrohung hingewiesen, worüber hinweggegangen worden sei. Diese Mängel hätten jede abschreckende Wirkung untergraben, die die offiziellen Ermittlungen auf die möglichen Täter hätten haben können. Spätestens ab dem 12.1.2013 seien die russischen Behörden zudem verpflichtet gewesen, präventive operative Maßnahmen zum Schutz des Lebens von A. zu ergreifen, wie sie im innerstaatlichen Recht auch vorgesehen seien. Es seien aber keine solchen Maßnahmen ergriffen worden. Eine solche Situation erwecke den Eindruck, dass die Strafverfolgungsbehörden schwere rechtswidrige Handlungen tolerieren, und untergrübe daher das Vertrauen der Öffentlichkeit in den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit und die Aufrechterhaltung der Rechtsstaatlichkeit durch den Staat. In diesem Zusammenhang habe der Status von A. als Journalist eine zusätzliche Verpflichtung für die innerstaatlichen Behörden begründet, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um seinen Schutz im Einklang mit den vom Europarat und den Vereinten Nationen entwickelten Standards und Empfehlungen zur Sicherheit von Journalisten zu gewährleisten. Zwar könne nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass es in diesem Fall nicht zur Tötung gekommen wäre. Der EGMR gab sich aber überzeugt, dass es eine reelle Aussicht gegeben hätte, dass die Gefahr für das Leben von A. hätte abgewendet werden können, wären nach dem 12.1.2013 Schutzmaßnahmen ergriffen und eine wirksame und zügige Ermittlung durchgeführt worden.

Mit Blick auf den Mord an K. (Beschwerde 58535/16) kam der EGMR hingegen zu einem anderen Ergebnis. Zwar sei er in den Flugblättern ebenfalls mit dem Tod bedroht worden. Auch wenn somit im Jahr 2009 eine gewisse Gefahr für das Leben von K. habe bestehen können, verfüge der EGMR nicht über ausreichende Informationen, um zu dem Schluss zu kommen, dass diese Gefahr kurz nach der Verteilung der Flugblätter reell und unmittelbar gewesen war. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Gefahr in den zwei Jahren und drei Monaten zwischen der Verteilung der Flugblätter und der Ermordung von K. im Dezember 2011 fortbestand. Es lägen auch keine Beweise dafür vor, dass vor der Ermordung von K. ein neues Risiko entstanden war, das eindeutig reell und unmittelbar war, wie im Fall von A.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 2 EMRK in Bezug auf beide Beschwerdeführer in verfahrensrechtlicher Hinsicht und in Bezug auf A. in materieller Hinsicht. In Bezug auf K. verneinte der EGMR einstimmig eine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem materiellen Teil. Mit Blick auf die behauptete Verletzung von Art. 10 EMRK war der EGMR in Anbetracht seiner Schlussfolgerungen zu Art. 2 EMRK der Auffassung, dass eine gesonderte Entscheidung über die Zulässigkeit und die Begründetheit der Beschwerde nicht erforderlich war.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.02.2024 11:06
Quelle: Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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