EGMR, Urt. v. 13.4.2021 - 13252/17 (Ahmet Hüsrev Altan gegen Türkei) u.a.

Türkei: EGMR stellt mit vier Urteilen Verletzungen des Art. 10 EMRK fest

Der EGMR hat seine umfassende Rechtsprechung betreffend die Verletzung des Art. 10 EMRK durch die Türkei um vier Urteile erweitert.

EGMR, Urt. v. 13.4.2021 - 13252/17 (Ahmet Hüsrev Altan gegen Türkei), Urt. v. 13.4.2021 - 80/17 (Murat Aksoy gegen Türkei), Urt. v. 4.5.2021 - 68136/16 (Kerestecioğlu Demir gegen Türkei), Urt. v. 4.5.2021 - 41139/15 und 41146 (Akdeniz u.a., Güven gegen Türkei)

Die Sachverhalte:
Bei den Beschwerdeführern handelte es sich um einen Romanautor und Journalisten (Altan), zwei weitere Journalisten (Aksoy, Güven), eine oppositionelle Abgeordnete der Nationalversammlung (Kerestecioğlu Demir) sowie zwei auf Social-Media-Plattformen beliebte Akademiker (Akdeniz, Altıparmak). Altan und Aksoy waren im Zuge des Putschversuches in der Türkei vom 15. Juli 2016 und des daraufhin verhängten Notstands inhaftiert worden, Altan wegen behaupteter Mitgliedschaft in einer Terrororganisation, Aksoy wegen regierungskritischer Artikel und Publikationen in Presse und Social Media, behaupteter Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und behaupteter Versuche des Umsturzes der Verfassungsordnung und der Regierung. Kerestecioğlu Demir war neben zahlreichen anderen Abgeordneten der Opposition in der Nationalversammlung im Zuge einer Verfassungsänderung die parlamentarische Immunität entzogen und mehrere Strafverfahren gegen sie initiiert worden. Akdeniz, Altıparmak und Güven schließlich wehrten sich gegen das Verbot der Verbreitung und Veröffentlichung von Informationen über eine parlamentarische Untersuchung von Korruptionsvorwürfen gegen vier ehemalige Minister durch eine einstweilige Verfügung.

Die Gründe:
Mit seinen Urteilen Altan und Aksoy stellte der EGMR insbesondere fest, dass es keinen Beweis dafür gebe, dass die Handlungen der Beschwerdeführer Teil eines Plans zum Sturz der Regierung waren bzw. dass es keine plausiblen Gründe zur Verdächtigung, Straftaten seien begangen worden, gegeben habe. Auch vor dem Hintergrund des Notstands sei die Inhaftierung der Beschwerdeführer nicht erforderlich gewesen. Da sie nicht auf einem begründeten Verdacht beruhte, dass sie Straftaten begangen hatten, konnte der Eingriff in ihr Recht auf freie Meinungsäußerung nicht gerechtfertigt werden. Die Eingriffe seien bereits nicht gesetzlich vorgesehen gewesen.

In seinem Urteil Kerestecioğlu Demir bezog sich der EGMR auf seine Argumentation im jüngst ergangenen Urteil Selahattin Demirtaş (Nr. 2)  (Urt. v. 22.12.2020 [Große Kammer] – 14305/17). Darin hatte er bereits festgestellt, dass die Verfassungsänderung vom Mai 2016, die die Aufhebung der parlamentarischen Immunität der Abgeordneten der Nationalversammlung ermöglichte, Teil von Maßnahmen zur Terrorismusprävention gewesen sei. Aus ihrer Begründung sei ersichtlich, dass sie darauf abzielte, die politische Rede von Parlamentariern zu beschränken. Im Lichte dieser Rechtsprechung vertrat der EGMR die Auffassung, dass die Aufhebung der Immunität durch die Verfassungsänderung selbst einen Eingriff in das Recht nach Art. 10 EMRK darstelle und bestätigte die in Selahattin Demirtaş (Nr. 2) festgestellte Konventionsverletzung.

Im Urteil Güven hielt der EGMR fest, dass die angefochtene Verfügung, die eine präventive Maßnahme darstellte, die darauf abzielte, jegliche zukünftige Verbreitung oder Veröffentlichung von Informationen zu verbieten, erhebliche Auswirkungen auf die Ausübung des Rechts der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung zu einem aktuellen Thema gehabt habe. Ein solcher Eingriff sei nicht gesetzlich vorgesehen im Sinne von Art. 10 gewesen und habe daher verhindert, dass Güven ein ausreichendes Schutzniveau genieße, wie es in einer demokratischen Gesellschaft rechtsstaatlich geboten sei.

Der EGMR stellte eine Verletzung von Art. 10 EMRK in den Fällen Altan, Aksoy, Kerestecioğlu Demir (jeweils 6 zu 1 Stimme) und Güven (einstimmig) fest. Die Beschwerde von Akdeniz und Altıparmak wurde hingegen als unzulässig zurückgewiesen, da ihr Nachweis unterblieb, dass das angefochtene Verbot sie anders als Güven direkt betroffen hatte und ihnen daher der Opferstatus fehlte.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.05.2021 16:46
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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