EGMR, Urt. v. 22.7.2021 - 2591/19

Georgien: Motive auf Kondomverpackungen unterfallen der Meinungsfreiheit

Äußerungen, die nicht lediglich kommerzielle Zwecke verfolgen, sondern darüber hinaus zu einer öffentlichen Debatte beitragen sollen, genießen ein höheres Schutzniveau als rein kommerziell motivierte Aussagen. (Gachechiladze gegen Georgien)

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin produzierte Kondome mit verschiedenen Verpackungsmotiven. Diese umfassten u. a. fiktionale wie non-fiktionale Charaktere, darunter historische und politische Persönlichkeiten, Verweise auf politische Ereignisse sowie Designs, die Unterstützung für die LGBT (lesbisch, schwul, bisexuell, transgender)-Gemeinschaft zum Ausdruck brachten. Die Motive wurden als solche auch und teilweise ausschließlich auf sozialen Medien der Beschwerdeführerin verfügbar gemacht. Wegen vier der Designs wurde ein Ordnungswidrigkeitenverfahren mit der Begründung, sie stellten eine sittenwidrige Werbung im Sinne des georgischen Werbegesetzes dar, eingeleitet. Im erstinstanzlichen Verfahren argumentierte die Beschwerdeführerin erfolglos, dass nicht ausreichend begründet worden sei, warum die Bilder gegen das Gesetz verstoßen hätten. Es wurde eine Geldstrafe gegen sie verhängt; sie wurde aufgefordert, die Verwendung und Verbreitung der betreffenden Motive zu unterlassen und einen Rückruf bereits vertriebener Produkte zu veranlassen. Ihre Berufung blieb ohne Erfolg.

Die Gründe:
Der EGMR bejahte mit Blick auf Art. 10 EMRK den Eingriffscharakter der strittigen Maßnahmen. Er ging von einer einschlägigen innerstaatlichen Rechtsgrundlage aus und akzeptierte, dass der Eingriff die legitimen Ziele des Schutzes der religiösen Rechte anderer und/oder des Schutzes der öffentlichen Moral verfolgt hatte.

Im Hinblick auf die Motive befand der Gerichtshof, dass sie nicht nur kommerzielle Zwecke verfolgten, sondern auch darauf abzielten, eine öffentliche Debatte über verschiedene Fragen von allgemeinem Interesse anzustoßen und/oder zu ihr beizutragen. Mehrere Designs schienen sowohl einen sozialen als auch politischen Kommentar zu verschiedenen Ereignissen oder Themen darzustellen. Aufgrund dessen hätten die innerstaatlichen Gerichte zwangsläufig über einen geringeren Ermessensspielraum zur Einschränkung der Meinungsfreiheit als bei rein kommerziellen Äußerungen verfügt.

Eines der Motive hatte eine heiliggesprochene Persönlichkeit zum Gegenstand. Die Heiligsprechung könne, so der EGMR, nicht per se dazu dienen, eine Diskussion über diese Person in der öffentlichen Debatte auszuschließen. Auch die Wahl des Ausdrucksmittels – hier die Herstellung und Verbreitung von Kondomverpackungen – dürfe entgegen der Auffassung der innerstaatlichen Gerichte nicht per se als ungeeignet bei der Beurteilung der Frage angesehen werden, ob die Äußerung zu einer öffentlichen Debatte über für die Gesellschaft wichtige Fragen beitragen könne. Jedoch fehle es insoweit an ausreichenden Argumenten der Beschwerdeführerin, dass die Entscheidung fälschlicherweise nur darauf hätte gestützt sein können.

Für die anderen Motive gelte dies jedoch nicht. Eines, welches sich auf einen christlichen Feiertag bezieht, ahme lediglich ein bereits bestehendes Kunstwerk mit hohem Bekanntheitsgrad nach und stelle offenbar eine satirische Anspielung auf eine in Georgien gebräuchliche Formulierung, um – auch an religiösen Praktiken – Kritik zu üben, dar. Hinsichtlich eines dritten Motivs gesteht der EGMR zu, dass auch das trivialste Bild Elemente enthalten könne, die ganz bestimmte Assoziationen mit einem religiösen Symbol hervorrufen und daher möglicherweise problematisch sein könnten, rügte aber, dass die nationalen Gerichte es unterlassen hatten darzulegen, warum das Motiv in diesem Sinne verstanden und somit überhaupt unter die Definition der sittenwidrigen Werbung im Sinne des Werbegesetzes fallen könne. Auch sei nicht dargelegt worden, ob ein „dringendes gesellschaftliches Bedürfnis“ im Sinne der Rechtsprechung des EGMR bestanden habe, die Verbreitung dieser Motive zu beschränken.

Der Gerichtshof beanstandete schließlich, dass die innerstaatlichen Gerichte offensichtlich davon ausgingen, dass die ethischen Ansichten der Mitglieder der georgisch-orthodoxen Kirche bei der Abwägung der verschiedenen durch die EMRK und die georgische Verfassung geschützten Werte Vorrang hätten. Eine solche Einordnung widerspreche der Rechtsprechung des EGMR und den einschlägigen internationalen Standards. In einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft müssten diejenigen, die von der Religionsfreiheit Gebrauch machen wollen, die Verleugnung ihrer religiösen Überzeugungen durch andere und sogar die Verbreitung von Lehren, die ihrem Glauben feindlich gegenüberstehen, tolerieren und akzeptieren.

Der EGMR hielt einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 18.08.2021 16:58
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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