EGMR, Urt. v. 18.11.2021 - 27801/12

Meinungsfreiheit - Italien: Verurteilung eines Buchautoren zur Zahlung von Schadensersatz wegen verleumderischer Äußerungen

Persönliche Aussagen mit persönlichkeitsrechtsverletzenden Inhalten in einem historischen Buch sind weniger schutzbedürftig als vergleichbare zur historischen Debatte beitragende Inhalte. (Marinoni gegen Italien)

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer ist Autor eines Buches, das u.a. eine Rekonstruktion der Ereignisse enthielt, die der als „Strage di Rovetta“ bekannten standrechtlichen Hinrichtung von 43 gefangenen Soldaten der Italienischen Sozialrepublik (inoffiziell: Republik von Salò, ein von 1943 bis 1945 bestehender faschistischer Satellitenstaat in Norditalien unter der militärischen Protektion des Deutschen Reichs) durch antifaschistische Kräfte vorausgingen. Die historische Darstellung wurde mit den privaten und persönlichen Erinnerungen des 1938 geborenen Beschwerdeführers überlagert, die sich auf sein Familienleben konzentrierten. Einige Seiten des Buches befassen sich mit den aus unterschiedlichen politischen Ansichten herrührenden Spannungen zwischen der antifaschistisch eingestellten Familie des Beschwerdeführers und der das faschistische Regime unterstützenden Familie M., die im selben Haus wohnte. Der Beschwerdeführer wurde im Strafverfahren in erster Instanz vom Vorwurf der Verleumdung aufgrund zweier Äußerungen in seinem Buch freigesprochen. Diese Äußerungen seien zwar „objektiv verleumderisch“, aber nicht strafbar, da sie in Ausübung des Rechts, über historische Ereignisse zu berichten und diese zu kommentieren, gemacht worden seien. Dieser Umstand befreie von strafrechtlicher Verantwortung. Der Beschwerdeführer wurde nach einer Berufung durch die Nebenkläger, Erben der Mitglieder der Familie M., zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen und zur Zahlung von Schadensersatz aufgrund der beiden Äußerungen in Höhe von 16.000 Euro an diese verurteilt. Dagegen eingelegte Rechtsmittel blieben erfolglos.

Die Gründe:
Nach Ansicht des EGMR habe die Feststellung der zivilrechtlichen Haftung des Beschwerdeführers einen Eingriff in dessen Recht auf freie Meinungsäußerung dargestellt. Der Eingriff sei jedoch gesetzlich vorgesehen gewesen, habe dem Schutz des guten Rufs oder der Rechte anderer gedient und sei – auch der Höhe des Schadensersatzes nach – nicht unverhältnismäßig gewesen.

Der Gerichtshof hielt fest, dass das Buch, das die persönlichen Erinnerungen des Beschwerdeführers mit dem durch seine Recherchen in den Archiven gewonnenen Material verband, in eine besondere Kategorie der historischen Forschung falle, die als „Mikrogeschichte“ bezeichnet wird. Deren Hauptziel bestehe darin, durch Fokussierung auf die lokale Geschichte und Berichte aus erster Hand Erfahrungen zu rekonstruieren, die bei anderen historiografischen Ansätzen übersehen wurden. Diesen Aspekt hätten die innerstaatlichen Gerichte bei ihrer detaillierten Beurteilung des Buches berücksichtigt. Der EGMR vertrat daneben die Auffassung, dass es sich bei dem Buch, insbesondere in den Passagen zum Massaker von Rovetta, weitgehend um einen Beitrag zu einer historischen Debatte handele. Nach seiner ständigen Rechtsprechung ist die Suche nach der historischen Wahrheit integraler Bestandteil der Meinungsfreiheit, und eine Debatte über die Ursachen von Handlungen, die Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen könnten, solle frei geführt werden können.

Wegen der persönlichen Aspekte und Erinnerungen, über die der Beschwerdeführer berichtet, habe das Buch jedoch einen gewissermaßen „hybriden“ Charakter. Die erste der beiden strittigen Äußerungen – über familiäre Verhältnisse in der Familie M. – sei nach Ansicht des EGMR nicht durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt gewesen. Die zweite Äußerung – in der ein Mitglied der Familie M. dafür verantwortlich gemacht wurde, dass der Name des Großvaters des Beschwerdeführers auf die Liste der Personen gesetzt wurde, die als Vergeltung für einen möglichen Angriff auf die deutschen Besatzungstruppen verhaftet und erschossen werden sollten – wiederum habe nichts zur Rekonstruktion der Ereignisse um die „Strage di Rovetta“ beigetragen, sondern stehe im Gegenteil in keinem Zusammenhang mit den neuen historischen Elementen des Buches. Zudem habe der Beschwerdeführer weder in seinem Buch noch im Verfahren Beweise für seine Aussage vorlegen können. Die Angehörigen der Familie M. seien in einem sehr negativen Licht, abwertend und den guten Ruf schädigend dargestellt worden.

Der EGMR verneinte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 17.12.2021 11:16
Quelle: Sebastian Zeitzmann, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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