Aktuell in der AfP

Das Problem mit "Fake News" und deren Illegalisierung (Herold, AfP 2022, 201)

Vorschläge zur rechtlichen Bewältigung von „Fake News“ und Desinformationen haben derzeit Hochkonjunktur. Die besonders problematischen Fälle sind dabei diejenigen, in denen Falschinformationen weder subjektive Individualrechtsgüter verletzen noch andere illegale Inhalte darstellen. Sie werden bislang unter vagen staatlichen Vorgaben der Selbstregulierung durch die Intermediäre überlassen. Es schließt sich die Frage an, ob auch der Gesetzgeber zum Schutz der freien öffentlichen Meinungsbildung wegen deren demokratiefunktionalen Bedeutung materielle Verbote von „Fake News“ aussprechen könnte. Der Beitrag will die Komplikationen innerhalb des Art. 5 Abs. 1 GG aufzeigen, die einer inhaltsbezogenen Informationsregulierung in Form einer Illegalisierung von „Fake News“ entgegenstehen.

 I. Fragmentarisierung des gemeinsamen Tatsachenwissens
1. Gefährdungspotential vermeintlicher Wahrheiten
2. Zersplitterung von Öffentlichkeit
3. Schnittmenge zur Vielfaltssicherungsdebatte
II. Objektivierung als regulative Herausforderung
1. Bemühung um die Identifizierung objektiver Schutzgüter
2. Vorschläge zur Desinformationsregulierung
3. Status quo: Auslagerung auf die Intermediäre
4. Ausgangsfrage eines zukünftigen materiellen Zugriffs
III. Wahrheit und Meinungsbildung
1. Individuelle Meinungsfreiheit und öffentliche Meinungsbildung
2. Fehlende Verallgemeinerbarkeit der journalistischen Wahrheitspflicht
3. Vermeidung eines Zirkelschlusses aus der individuellen Meinungsfreiheit
IV. Fazit


I. Fragmentarisierung des gemeinsamen Tatsachenwissens


1. Gefährdungspotential vermeintlicher Wahrheiten
1
Um die gesellschaftliche Relevanz des Themas „Fake News“ und dessen Regulierungsbedürftigkeit zu unterstreichen, lassen sich die Ereignisse um die US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen zur Jahreswende 2020/21 heranziehen. Der „Sturm auf das Kapitol“ am 6.1.2021 stellte den dramatischen Höhepunkt der ohnehin turbulenten Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten 2020 dar. Aufgestachelt durch das Narrativ einer „gestohlenen Wahl“ protestierten die Anhänger von Donald Trump gegen die formale Bestätigung des Wahlergebnisses zugunsten seines Kontrahenten Joe Biden sowie dessen demokratischer Legitimation. Es stellte sich heraus, dass die fatale Behauptung einer manipulierten Wahl millionenfach in den sozialen Netzwerken, aber auch in den klassischen Massenmedien aufgegriffen und verbreitet wurde.

2
Ein zweiter – deutlich weniger eskalierter – Vorfall ereignete sich ein halbes Jahr zuvor am 30.8.2020 vor dem Reichstagsgebäude in Berlin, als dort aus Protest gegen die Maßnahmen der Bundesregierung im Zuge der Corona-Pandemie hunderte Demonstranten die Absperrungen überwanden, um vor dem Besuchereingang des Gebäudes ein Konglomerat an Reichskriegsflaggen und Regenbogenfahnen zu schwenken. Auch dieser Vorgang war begleitet von an Absurdität nicht zu überbietenden Meldungen im Internet: Amerikanische sowie russische Soldaten seien zur Befreiung Berlins von der Corona-Diktatur unterwegs und über eine Millionen Demonstranten stünden bereits vor dem Bundestag.

3
Die Gemeinsamkeit beider Vorfälle ist nicht nur der Schauplatz einer jeweils bedeutenden demokratischen Institution, sondern gleichermaßen die Einwirkung von „Fake News“ oder Desinformationskampagnen, welche die Agitatoren dazu bewegte, sich als vermeintliche Retter eben jener Demokratie legitimiert zu fühlen. Während einige Vorfälle mit teilweise vollkommen aberwitzigen Falschmeldungen bei den meisten nur ein müdes Kopfschütteln auslösen,lässt sich das Gefahrenpotential derartiger gesellschaftlicher Konflikte kaum noch leugnen, die bei durch „Fake News“ beeinflussten demokratischen Wahlentscheidungen oder auch weltweiter Pandemien entstehen können. Schließlich hat im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 laut einer Studie mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung die Sorge geäußert, dass „Fake News“ die Wahl akut bedrohen und beeinflussen könnten. Während der Corona-Pandemie wurden im April 2020 die zehn meistbesuchten Websites mit nachweislich falschen Gesundheitsinformationen viermal so häufig aufgerufen wie die Homepages anerkannter Gesundheitsorganisationen: 800 Menschen starben, weil sie zur inneren Desinfektion gegen SARS-CoV-2-Viren hochkonzentrierten Alkohol tranken. Ob im Kontext besonderer demokratischer Prozesse wie Wahlen oder genereller Informationszusammenhänge wie der Corona-Pandemie – alle Vorschläge für eine Desinformationsregulierung sind letztlich von dem ideellen Gedanken getragen, dass es notwendig ist, irgendwo ein gemeinsames Tatsachenwissen (wieder-)herzustellen.

2. Zersplitterung von Öffentlichkeit
4
Natürlich handelt es sich bei „Fake News“ oder Desinformationen keineswegs um historisch neuartige Phänomene. Mit der Digitalisierung und der durch sie wiederum bedingten Medienkonvergenz des interaktiven Web 2.0 kamen jedoch zwei wesentliche Katalysatoren für die Verbreitung vom Falschinformationen auf. Jeder Person mit internetfähigem Endgerät ist es nun möglich, Informationen einem breiten Rezipientenkreis zugänglich zu machen, ohne diese einer näheren Überprüfung zu unterziehen. Dadurch wird aber nicht nur die öffentliche Meinungsbildung inhaltlich angereichert. Vielmehr können Kommunikatoren des Web 2.0 gemeinsam die öffentliche Meinungsbildung als solche in Form demokratischer Öffentlichkeit aktiv in die digitale Welt verlagern. Was früher noch als eine demokratische (Medien-) Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, hat sich dadurch in mehrere digitale Öffentlichkeiten fragmentarisiert. Hinsichtlich deren Prozesse der Meinungsbildung gelten nun völlig verschiedene Maßstäbe der Interaktion und Partizipation für jedes Individuum. Es entstehen hierbei neue pluralistische Formen webbasierter Kollektivität, in denen die informelle Macht der Vielen durch aktive Teilnahme am Diskurs aggregiert und die Rolle der Printmedien und Rundfunkanstalten als Filtermedien für die „frühere“ Öffentlichkeit marginalisiert wird. Innerhalb dieser überstaatlichen Kollektive entstehen zwangsläufig andere Vorstellungen bzgl. bipolarer Kategorien wie „wahr“ und „unwahr“. Das rührt letztendlich daher, dass die Identifizierung von „Fake News“ von der Bindung an andere Kommunikationspartner und wiederum deren Verhältnis zur Gesellschaft abhängt.

3. Schnittmenge zur Vielfaltssicherungsdebatte
5
Die Diskussion um die Konzeptionalisierung und Regulierung dieser strukturellen Veränderungen von „Öffentlichkeit“ wurde bisher eher vor dem Hintergrund der Gewährleistung von Meinungsvielfalt und Verhinderung von Meinungsmacht anstelle der konkreten Illegalisierung von Desinformationen geführt. Auch das BVerfG betonte im Zusammenhang mit dem Funktionsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks die Wichtigkeit der Meinungsvielfalt innerhalb der...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 15.06.2022 13:33
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

zurück zur vorherigen Seite