EGMR v. 22.2.2024 - 16974/14

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens - Polen: Offenlegung der Aufzeichnung eines Telefongesprächs während einer Pressekonferenz

Mangels Rechtsgrundlage durfte ein im Rahmen von strafrechtlichen Ermittlungen aufgezeichnetes Telefonat einer Person, die selbst nicht Gegenstand der Ermittlungen war, nicht im Rahmen einer Pressekonferenz abgespielt werden. (Kaczmarek gegen Polen)

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin ist die Ehefrau eines polnischen Politikers, K., der zum Zeitpunkt der beschwerdegegenständlichen Ereignisse das Amt des Innenministers innehatte. Er wurde im August 2007 seines Postens enthoben, nachdem er angeblich Ermittlungen der zentralen Antikorruptionsbehörde und der Staatsanwaltschaft wegen des Vorwurfs der Vorteilsnahme gegen hochrangige Politiker behindert hatte. Während der sich anschließenden Strafverfahren, in denen K. einerseits als Zeuge, andererseits als Beklagter beteiligt war, führte die nationale Agentur für innere Sicherheit eine verdeckte Überwachung des K. durch. Die Telefongespräche der Beschwerdeführerin, unter anderem mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn, wurden im Zuge dessen ebenfalls von der zentralen Antikorruptionsbehörde überwacht. Eines der aufgezeichneten Gespräche wurde während einer live im öffentlich-rechtlichen Fernsehen übertragenen Pressekonferenz abgespielt. Darüber hinaus erhielt die Staatsanwaltschaft im Rahmen der Operation Aufzeichnungen und Abschriften der Telefongespräche des Beschwerdeführers. Zwei Tageszeitungen berichteten über die Ermittlungen, wobei sie auf durchgestochene Ermittlungsunterlagen und -informationen zurückgriffen, eine von ihnen auch auf die aufgezeichneten Telefonate. Daraufhin eingeleitete Ermittlungen wegen der Weitergabe von vertraulichem Ermittlungsmaterial an Journalisten wurden eingestellt, da kein Täter ermittelt werden konnte.

Das Verfahren gegen K. wurde schließlich ebenfalls eingestellt.

Die gegen Vertreter der Staatsanwaltschaft gerichtete Klage der Beschwerdeführerin wegen Verletzung ihrer personenbezogenen Rechte vor dem Landgericht Warschau wurde abgewiesen. Rechtsmittel dagegen blieben ohne Erfolg. Auch die beantragte Vernichtung des Ermittlungsmaterials konnte die Beschwerdeführerin nicht erreichen. Vor dem EGMR rügte sie insbesondere unter Berufung auf Art. 8 EMRK die Offenlegung ihres Telefongesprächs während der Pressekonferenz und das angebliche Versäumnis, das aus der Überwachung resultierende Ermittlungsmaterial zu vernichten.

Die Gründe:
Mit Blick auf die Offenlegung des Telefongesprächs der Beschwerdeführerin während der Pressekonferenz verwies der EGMR zunächst auf seine ständige Rechtsprechung, wonach Telefongespräche – auch wenn sie in Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht ausdrücklich erwähnt werden – unter die Begriffe „Privatleben“ und „Schriftverkehr“, auf die Art. 8 EMRK Bezug nimmt, fallen.

Die polnische Regierung hatte eingeräumt und der EGMR schloss sich dem an, dass die öffentliche Wiedergabe der Aufzeichnung des Telefongesprächs der Beschwerdeführerin eine Beeinträchtigung im Sinne von Art. 8 EMRK darstellte. Die Entscheidung, die Aufzeichnung des Gesprächs offenzulegen, sei auf der Grundlage von § 156 Abs. 5 der polnischen Strafprozessordnung getroffen worden, so der EGMR weiter. Diese Vorschrift habe zum maßgeblichen Zeitpunkt zwar in erster Linie den Zugang zu den Akten eines Falles – was eine Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz der Vertraulichkeit einer Ermittlung darstelle – zum Zwecke der Anfertigung von Kopien betroffen, jedoch in Ausnahmefällen vorgesehen, dass im Laufe der Ermittlungen mit Erlaubnis des Staatsanwalts Streithelfern Akteneinsicht gewährt werden könne. Allerdings habe das innerstaatliche Recht weder die „Ausnahmefälle“ präzisiert noch die Art und Weise, wie Streithelfern Einsicht gewährt werden würde. Überdies sehe § 156 Abs. 5 der Strafprozessordnung nicht vor, dass Informationen oder Daten, die während einer Ermittlung gesammelt wurden, auf einer Pressekonferenz bekannt gegeben werden dürfen. Nichts im innerstaatlichen Recht ermögliche es einer Person in der Position der Beschwerdeführerin, die nicht von den Ermittlungen selbst betroffen war, deren Gespräche aber dennoch aufgezeichnet worden waren, vorauszusehen, dass § 156 Abs. 5 der Strafprozessordnung geltend gemacht werden könnte, um die Offenlegung eines Telefongesprächs auf einer Pressekonferenz zu rechtfertigen.

Die Offenlegung der Aufzeichnung eines Telefongesprächs einer Person, die nicht Gegenstand der Ermittlungen war, wie vorliegend bei der Beschwerdeführerin der Fall, während einer Pressekonferenz sprenge den Rahmen der den Strafverfolgungsbehörden durch § 156 Abs. 5 der Strafprozessordnung übertragenen Befugnisse. Der Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die Aufzeichnung des Gesprächs der Beschwerdeführerin offenzulegen, mangele es somit an einer Rechtsgrundlage im innerstaatlichen Recht, weshalb die Beeinträchtigung des Privatlebens der Beschwerdeführerin nicht gesetzlich vorgesehen gewesen sei, wie in Art. 8 Abs. 2 EMRK gefordert.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 8 EMRK durch die Offenlegung des Telefongesprächs der Beschwerdeführerin. Er bejahte daneben einstimmig eine Verletzung von Art. 8 EMRK durch die fortdauernde Speicherung der bei der verdeckten Überwachung gewonnenen Daten.
 

 

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.03.2024 11:50
Quelle: Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

zurück zur vorherigen Seite