EGMR v. 20.2.2024 - 48340/20

Meinungsfreiheit - Türkei: Entlassung eines Bankangestellten wegen kritischer interner E-Mail

Die türkischen Gerichte haben im Zuge einer Kündigungsschutzklage mehrere Faktoren, die der EGMR in der Vergangenheit in die Meinungsfreiheit von Arbeitnehmern betreffenden Fällen berücksichtigt hat, außer Acht gelassen. (Dede gegen Türkei)

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer war zum beschwerdegegenständlichen Zeitpunkt im Rahmen eines privatrechtlichen Arbeitsvertrags als IT-Spezialist bei der türkischen Takasbank beschäftigt. Im Dezember 2016 schickte er von seinem beruflichen E-Mail-Konto aus eine E-Mail an die Mitarbeiter der Personalabteilung der Bank, wobei er einen stellvertretenden Direktor des Unternehmens in Kopie setzte. Mit seiner E-Mail kritisierte der Beschwerdeführer die Managementpraktiken von K., dem Verwaltungsratsvorsitzenden des Hauptaktionärs der Bank, dem er unter anderem einen autoritären Führungsstil vorwarf. Noch am selben Tag leitete der Arbeitgeber des Beschwerdeführers ein Disziplinarverfahren ein und kündigte am nächsten Tag seinen Arbeitsvertrag. Der Arbeitgeber war insbesondere der Ansicht, dass der Inhalt der E-Mail abwertend und unwahr gewesen sei und sich der Beschwerdeführer darin über K. lustig gemacht habe. Die E-Mail habe Formulierungen enthalten, die als beleidigend und verleumderisch bezeichnet werden könnten und habe die Grenzen der akzeptablen Kritik an K. überschritten. Mit seiner vor dem Arbeitsgericht Istanbul erhobenen Klage wegen ungerechtfertigter Entlassung hatte der Beschwerdeführer, der sich auf das Recht auf freie Meinungsäußerung berief, zunächst Erfolg. Auf die Berufung durch den Arbeitgeber gegen diese Entscheidung hin hob das Landgericht Istanbul das erstinstanzliche Urteil jedoch auf. Dagegen gerichtete Rechtsmittel des Beschwerdeführers blieben ohne Erfolg.

Die Gründe:
Der Gerichtshof befand, dass die innerstaatlichen Gerichte legitime Ziele verfolgten, die in Art. 10 EMRK anerkannt sind, nämlich den Schutz des guten Rufs oder der Rechte anderer, einschließlich der Interessen des Arbeitgebers am Arbeitsplatz. Allerdings hätten die türkischen Gerichte bei ihrer Schlussfolgerung, dass die E-Mail des Beschwerdeführers, in der er angebliche Unzulänglichkeiten im Management des Unternehmens kritisiert hatte, ein Ärgernis darstellte, das den Betriebsfrieden und die Ordnung am Arbeitsplatz gestört hatte, offenbar keine hinreichend detaillierte Prüfung des Inhalts der fraglichen E-Mail, des Kontextes, in dem sie versandt worden war, ihrer potenziellen Tragweite oder Auswirkungen, ihrer angeblichen negativen Folgen für den Arbeitgeber oder den Betrieb mit Blick auf potentielle Beeinträchtigungen am Arbeitsplatz oder der Schwere der gegen den Beschwerdeführer verhängten Sanktion vorgenommen. All dies seien aber Faktoren, die der EGMR in der Vergangenheit in Fällen, die die Meinungsfreiheit von Arbeitnehmern betrafen, berücksichtigt hatte.

Mit Blick auf den Inhalt der E-Mail hielt der EGMR fest, dass der Beschwerdeführer K. im Wesentlichen scharf kritisiert und behauptet habe, dass dessen Managementpraktiken mit einem modernen Managementansatz unvereinbar seien. Er habe sich, obwohl er sich einer sarkastischen Sprache und eines leicht provokanten Stils bedient habe, jedoch in keiner Weise beleidigend oder vulgär ihm gegenüber geäußert. Das Landgericht habe in diesem Zusammenhang weder die spezifischen Ausdrücke in der E-Mail benannt, die es für problematisch hielt, noch hatte es die vom Beschwerdeführer verwendete Sprache bewertet.

Der Beschwerdeführer habe nach einem ergebnislosen Austausch mit seinen Vorgesetzten über Missstände, die er ihnen in der Vergangenheit zur Kenntnis gebracht hatte, in seiner E-Mail die angeblichen Mängel in der Unternehmensführung kritisiert. Solche Kritik sei für das betreffende Unternehmen zweifellos von Interesse gewesen. Auch sei die Nachricht nur an eine kleine Gruppe von Empfängern innerhalb des Unternehmens geschickt worden war. Sie sei auch nicht nach außen gedrungen, was Indiz dafür sei, dass ihre Auswirkungen nur überschaubarer Natur gewesen sein dürften.

Zudem hätten die innerstaatlichen Gerichte die Entscheidung des Arbeitgebers, die schwerste Sanktion gegen den Arbeitnehmer zu verhängen, bestätigt, ohne die Möglichkeit einer milderen Sanktionierung in Betracht zu ziehen. In ihrer Begründung hätten sie nicht überzeugend dargelegt, dass mit der Zurückweisung der Klage des Beschwerdeführers ein angemessenes Gleichgewicht zwischen seiner freien Meinungsäußerung und dem Recht seines Arbeitgebers, die legitimen Interessen des Unternehmens zu schützen, hergestellt worden war.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.03.2024 11:58
Quelle: Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)

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